Heft 5/2021 (September 2021)

Abhandlungen

B. Heiderhoff:
Internationale Produkthaftung 4.0 – Welche Wertungen sollten das Kollisionsrecht für autonome Systeme prägen? 409

Während die Diskussion über die sachrechtliche Haftung für Schäden durch autonome Systeme oder "künstliche Intelligenz" lebhaft geführt wird, wird über das Kollisionsrecht erst zaghaft nachgedacht. Dieser Beitrag zeigt, das einseitige Regelungen, wie das Parlament sie jüngst vorgeschlagen hat, nicht weiterführend sind. Es sollte bei einer klassischen, an Art. 5 Rom II-VO angelehnten Norm bleiben, die die zu erwartenden Wertungen des Sachrechts aufnimmt. Dabei könnte man zwar wohl über eine entsprechend weite Auslegung des Art. 5 Rom II-VO zu einer brauchbaren Lösung gelangen, doch wäre es zumindest für die Rechtssicherheit besser, eine Neuregelung vorzunehmen. Statt des „Inverkehrbringens" sollte diese mehr auf die Vermarktung abstellen und den Sitz des Herstellers noch weiter zurückdrängen.

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K. Vollmöller:
Die kollisionsrechtliche Behandlung von Geheimnisverletzungen in Vertragsverhältnissen 417

Der Beitrag behandelt die Bestimmung des auf einen Sachverhalt mit Auslandsbezug anzuwendenden Sachrechts bei Ansprüchen wegen der Verletzung von Geschäftsgeheimnissen, die im Rahmen von Vertragsverhältnissen begangen werden. Im Zentrum steht die Frage der Anknüpfung des deliktischen Anspruchs nach dem auf EU-Richtlinienrecht basierenden GeschGehG, wenn Vertragspartner zur Absicherung ihrer Geschäftsgeheimnisse eine Vertraulichkeitsvereinbarung abgeschlossen haben. Ist auf diese das Recht eines nicht zur EU gehörenden Staats anzuwenden, so stellt sich die Frage, ob die deliktischen Ansprüche gemäß Art. 4 Abs. 3 Rom II-VO dem Vertragsstatut unterliegen und das harmonisierte Geschäftsgeheimnisrecht auf diese Weise abgewählt wird. Die Verfasserin bejaht eine vertragsakzessorische Anknüpfung im Ergebnis nur in Fällen, in denen die Parteien schuldvertragliche Verpflichtungen übernommen haben, die über die reine Vertraulichkeit hinausgehen. Die anspruchsbegründenden Regelungen des GeschGehG kommen in diesem Fall auch nicht als zwingende Normen zur Anwendung. 

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T. Lutzi:
Ruth Bader Ginsburg – Internationalistin aus Überzeugung 424

Mit dem Tod Ruth Bader Ginsburgs hat der Supreme Court nicht nur eine Ikone der Geschlechtergleichstellung und herausragende Richterpersönlichkeit, sondern auch eine große Internationalistin verloren. Ginsburgs Rechtsprechung war geprägt von ihrem eigenen akademischen Hintergrund als Prozessualistin und Rechtsvergleicherin, einer dezidiert internationalen Perspektive und dem festen Glauben an ein respektvolles und kooperatives Nebeneinander der Rechtsordnungen. Eine englische Version von dem Text findet sich auf www.iprax.de/de/dokumente/online-veroeffentlichungen/

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Entscheidungsrezensionen

C. Kohler:
Rückbau der Mosaiklösung: Zur internationalen Zuständigkeit bei Verletzung des Persönlichkeitsrechts von Unternehmen im Internet 428

FAO

In der Rechtssache C-194/16, Bolagsupplysningen, entschied der EuGH, dass eine juristische Person, deren Persönlichkeitsrechte durch die Veröffentlichung unrichtiger Angaben und Kommentare über sie im Internet angeblich verletzt wurden, Klage auf Richtigstellung der Angaben und Entfernung der Kommentare sowie auf Ersatz des gesamten entstandenen Schadens gemäß Art. 7 Nr. 2 EuGVVO bei den Gerichten des Mitgliedstaats erheben kann, in dem sich der Mittelpunkt ihrer Interessen befindet. Eine Klage auf Richtigstellung der Angaben und Entfernung der Kommentare kann andererseits nicht vor den Gerichten jedes Mitgliedstaats erhoben werden, in dessen Hoheitsgebiet die im Internet veröffentlichten Informationen zugänglich sind oder waren. Damit gilt die vom EuGH im Urteil C-509/09 und C-161/10, eDate Advertising u.a. entwickelte Lösung auch, wenn der Geschädigte eine juristische Person ist. Die in diesem Urteil enthaltene Mosaiklösung findet dagegen keine Anwendung, weil eine Klage auf Richtigstellung und Entfernung von Informationen im Internet „einheitlich und untrennbar" ist und nur in dem Staat erhoben werden kann, dessen Gerichte für den gesamten Schaden zuständig sind. Der Autor begrüßt diese Begrenzung und plädiert dafür, die Mosaiklösung ganz aufzugeben, zumal sie im internationalen Kontext keine Resonanz findet. 

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P. Mankowski:
Europäisches Internationales Verbraucherprozessrecht und Gesellschaftsverträge 432

Gesellschaftsrechtliche Verträge sind eine Herausforderung an das europäische Internationalen Verbraucherprozessrecht. Denn sie bewegen sich regelmäßig in einem Mehrpersonenumfeld, während jene Rechtsnormen für bipolare Zweipersonenverhältnisse konzipiert sind. Daraus erwachsen interessante Fragestellungen: Wer wäre die Gegenpartei des Verbraucher-Gesellschafters beim Gesellschaftsvertrag oder bei einem Beitritt? Wie prägend sollen Gleichbehandlung der Gesellschafter oder Konzentration von Streitigkeiten der Gesellschaft wirken? Welche Parallelwertungen lassen sich aus dem Europäischen Verbraucherschutzrecht gewinnen? Welche Konsequenzen könnte sich für Gerichtsstandsvereinbarungen in Gesellschaftssatzungen ergeben? 

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W. Wurmnest/C. Grandel:
Die behördliche Durchsetzung verbraucherschützender Verhaltenspflichten als Zivil- und Handelssache: Unterlassung, Beweis, vereinfachte Feststellung 440

In der Rechtssache C-73/19 (Belgische Staat ./. Movic) urteilt der Europäische Gerichtshof erneut zur Abgrenzung einer „Zivil- und Handelssache" von einer öffentlich-rechtlichen Streitigkeit (Art. 1 Abs. 1 EuGVVO) bei Beteiligung einer Behörde. Der Gerichtshof stuft eine Klage belgischer Behörden gegen niederländische Gesellschaften, mit der Feststellung und Unterlassung unlauterer Geschäftspraktiken zum Schutze der Verbraucher begehrt wurde, zutreffend als „Zivil- und Handelssache" ein, da die Behörden im konkreten Fall in vergleichbarer Weise wie eine Verbraucherschutzvereinigung agierten. Ferner präzisiert der Gerichtshof seine Rechtsprechung zur Frage, inwieweit die Beschaffung und Verwendung von Beweismitteln durch eine Behörde Auswirkungen auf die Einordnung der Klage als „Zivil- und Handelssache" haben. Schließlich befasst er sich mit der Einstufung diverser Annexanträge und qualifiziert einen Antrag, der darauf abzielt, zukünftige Verstöße durch ein Protokoll eines vereidigten Beamten eigenständig durch die Behörde feststellen zu können, als öffentlich-rechtliche Streitigkeit, da Privatkläger diese Möglichkeit der vereinfachten Rechtsdurchsetzung im belgischen Recht nicht besitzen. 

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R. Wagner:
Gerichtliche Zuständigkeitsbestimmung bei Streitgenossenschaft mit EU-Auslandsbezug 445

Das OLG Hamm sollte das örtlich zuständige Gericht für einen Rechtsstreit bestimmen, in dem ein Deutscher im Abgasskandal gerichtlich gegen zwei Deutsche mit unterschiedlichem Sitz in Deutschland und eine dritte Beklagte mit Sitz in der Tschechischen Republik vorging. Nach Auffassung des Autors hätte das OLG Hamm dem Antrag auf Zuständigkeitsbestimmung nicht stattgeben dürfen, sondern diesen zurückweisen müssen, weil dieses Gericht hinsichtlich der Beklagten aus der Tschechischen Republik nach Art. 8 Nr. 1 EuGVVO örtlich nicht zuständig war. Ungeachtet dessen werden in der Rezension auch die weiteren Ausführungen des OLG Hamm zu anderen Rechtsfragen im Rahmen der Zuständigkeitsbestimmung kommentiert.

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J. Wolber:
Die internationale Zuständigkeit für den Vollstreckungsabwehrantrag im europäischen Unterhaltsrecht 450

Die Frage, ob der Vollstreckungsschuldner bei der grenzüberschreitenden Vollstreckung eines Unterhaltstitels innerhalb der EU im Vollstreckungsmitgliedstaat die Einwendung erheben kann, er habe nach Erlass der Entscheidung die Forderung (teilweise) erfüllt, ist praktisch höchst relevant, in der Literatur umstritten und – auf eine deutsche Vorlage hin – Gegenstand des Urteils des EuGH in der Rechtssache FX ./. GZ vom 4.6.2020. Der EuGH bejaht die internationale Zuständigkeit der deutschen Gerichte und leitet diese aus der Vorschrift des Art. 41 Abs. 1 EuUntVO ab. Diese Entscheidung hat Ausstrahlungswirkung über das europäische Unterhaltsrecht hinaus auf die übrigen Instrumente des Europäischen Zivilprozessrechts. Dem EuGH ist im Ergebnis zuzustimmen, nicht aber in der Begründung seiner Entscheidung. Darüber hinausgehend stellt sich die Frage nach der territorialen Reichweite der Entscheidung des Vollstreckungsmitgliedstaats.

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P. Schlosser:
Die drei Arten der Zustellung nach der Europäischen Zustellungsverordnung und Großzügigkeit bei der Zustellung „demnächst“ 453

Der Autor begrüßt das Urteil in allen Punkten und hebt die tiefgehende Auseinandersetzung mit der Literatur und der bisherigen Rechtsprechung anerkennend hervor. Im Anschluss daran zeigt er die jeweiligen sich aufgrund des neuen Urteils ergebenden Vor- und Nachteile der drei in der EuZVO vorgesehenen Arten der Zustellung: (1) Der Zustellung unter Beifügung einer Übersetzung, (2) der Zustellung mit dem Antrag an das Gericht, um eine Übersetzung besorgt zu sein, und (3) der Zustellung ohne Beifügung einer Übersetzung.

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A. Dutta:
Europäisches Nachlasszeugnis auch für Nachlassinsolvenzverwalter 455

Das deutsche Recht sieht mit der Nachlassinsolvenz ein besonderes Insolvenzverfahren für überschuldete Nachlässe vor, das der europäischen Insolvenzverordnung (EuInsVO) unterliegt. Das Oberlandesgericht Frankfurt am Main kommt in der rezensierten Entscheidung zu dem Ergebnis, dass dennoch der Nachlassinsolvenzverwalter ein Europäisches Nachlasszeugnis gemäß der europäischen Erbrechtsverordnung (EuErbVO) als „Nachlassverwalter" beantragen kann. Die Besprechung argumentiert, dass das Nachlassinsolvenzverfahren sowohl insolvenzrechtlich als auch erbrechtlich zu qualifizieren ist (Doppelqualifikation) und dass die Ausstellung eines Nachlasszeugnisses lediglich indirekt Friktionen zwischen beiden Rechtsakten verursacht, die nicht ausreichen, um die Vorrangregel des Art. 76 EuErbVO auszulösen. Die Entscheidung zeigt, dass das Nachlasszeugnis als Modell auch für andere Bereiche dienen könnte.

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Rezensierte Entscheidungen

24 EuGH 17.10.2017 Rs. C-194/16 Rückbau der Mosaiklösung: Zur internationalen Zuständigkeit bei Verletzung des Persönlichkeitsrechts von Unternehmen im Internet [C. Kohler, S. 428] 458
25 BGH 20.10.2020 X ARZ 124/20 Europäisches Internationales Verbraucherprozessrecht und Gesellschaftsverträge [P. Mankowski, S. 432] 462
26 EuGH 16.7.2020 Rs. C-73/19 Die behördliche Durchsetzung verbraucherschützender Verhaltenspflichten als Zivil- und Handelssache: Unterlassung, Beweis, vereinfachte Feststellung [W. Wurmnest/C. Grandel, S. 440] 465
27 OLG Hamm 2.4.2020 32 SA 73/19 Gerichtliche Zuständigkeitsbestimmung bei Streitgenossenschaft mit EU-Auslandsbezug [R. Wagner, S. 445] 469
28 EuGH 4.6.2020 Rs. C-41/19 Die internationale Zuständigkeit für den Vollstreckungsabwehrantrag im europäischen Unterhaltsrecht [J. Wolber, S. 450] 470
29 BGH 25.2.2021 IX ZR 156/19 Die drei Arten der Zustellung nach der Europäischen Zustellungsverordnung und Großzügigkeit bei der Zustellung „demnächst“ [P. Schlosser, S. 453] 473
30 OLG Frankfurt a.M. 9.2.2021 21 W 151/20 Europäisches Nachlasszeugnis auch für Nachlassinsolvenzverwalter [A. Dutta, S. 455] 479

Blick ins Ausland

E. Jayme:
Der U.S. Supreme Court und der Welfenschatz: Immunität der Bundesrepublik Deutschland und die „domestic takings rule“ 482

Jüdische Kunsthändler verkauften im Jahre 1935 große Teile des Welfenschatzes, den sie von der herzoglichen Familie von Braunschweig-Lüneburg erworben hatten, an Preußen. Der Schatz befindet sich heute im Eigentum der Stiftung Preußischer Kulturbesitz und ist im Kunstgewerbemuseum in Berlin ausgestellt. Die Erben der Kunsthändler klagten vor U.S.-amerikanischen Gerichten gegen die Bundesrepublik Deutschland und die Stiftung Preußischer Kulturbesitz auf die Restitution des Welfenschatzes und trugen vor, der Verkauf sei unter Zwang zu einem Preis von einem Drittel des Wertes erfolgt. Die Beklagten beriefen sich auf den Grundsatz der Staatenimmunität. Die Kläger stützten sich dagegen auf eine US-amerikanische Gesetzesbestimmung, welche Ausnahmen von der Immunitätsregel u.a. dann vorsieht, wenn die Enteignung unter Verletzung des Völkerrechts erfolgte. Anders als die beiden unteren Gerichte entschied der U.S. Supreme Court, dass die völkerrechtliche Ausnahme von der Immunitätsregel nicht eingreife, wenn der beklagte Staat seine eigenen Staatsbürger enteigne („domestic takings rule"). Der U.S. Supreme Court verwies den Fall an den Dictrict Court des District of Columbia zurück. Es kommt jetzt also darauf an, ob die jüdischen Kunsthändler im Jahre 1935 die deutsche Staatsangehörigkeit besaßen. 

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Mitteilungen

J. Samtleben:
Ein karibisches IPR-Modell – das dominikanische Gesetz von 2014 484

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