Heft 6/2024 (November 2024)

Aktuelles Heft (zum Probeabo)

Abhandlungen

S. Deuring:
Die Geschlechtszugehörigkeit im Internationalen Privatrecht – Bemerkungen zum neuen Art. 7a EGBGB 433

Die Geschlechtszugehörigkeit hat im Recht zwar an Bedeutung verloren, etwa durch die Ehe für alle, ganz irrelevant ist sie jedoch nicht. So sehen die Abstammungsregeln der §§ 1591 f. BGB beispielsweise vor, dass eine Mutter eine Frau und ein Vater ein Mann ist. Der Gesetzgeber hat daher gut daran getan, sich der Geschlechtszugehörigkeit auch auf Ebene des Internationalen Privatrechts anzunehmen und mit Art. 7a EGBGB eine Kollisionsnorm zu schaffen. Dabei hat er sich in erster Linie für eine Staatsangehörigkeitsanknüpfung entschieden: Nach Art. 7a Abs. 1 EGBGB bestimmt sich das Geburtsgeschlecht einer Person nach dem Recht des Staates, dessen Staatsangehörigkeit diese Person besitzt. Dies ist insofern bemerkenswert, als in anderen Bereichen verstärkt der gewöhnliche Aufenthalt als Anknüpfungspunkt gewählt wird. Der Gesetzgeber hätte diesbezüglich zumindest, wie es beispielsweise ab 1.5.2025 im Internationalen Namensrecht nach Art. 10 EGBGB n.F. vorgesehen ist, ein Wahlrecht bieten können, um Personen die Möglichkeit zu geben, dass ihr Geschlecht dort anerkannt wird, wo sie ihren Lebensmittelpunkt haben. Ein solches Wahlrecht hat er jedoch in Art. 7a Abs. 2 EGBGB nur für die Änderung von Geschlecht und Vornamen vorgesehen, jedenfalls dann, wenn eine Person ihren gewöhnlichen Aufenthalt im Inland hat. Diese kann dann deutsches Recht wählen. Hierbei stellt sich, insbesondere wiederum im Hinblick auf das künftige Internationale Namensrecht, jedoch die Frage, weshalb Vornamensänderungen dem Geschlechtsstatut und nicht dem Namensstatut unterfallen. Allgemein stellt der Gesetzgeber Rechtsprechung und Literatur vor die Aufgabe, die Reichweite des Art. 7a EGBGB abzustecken, denn Geschlechtsänderungen können sich auf verschiedene Rechtsverhältnisse auswirken, wie etwa bestehende oder künftige Eltern-Kind-Verhältnisse.

P. Wittum:
Kein Kollisionsrecht für das digitale Zeitalter? Anwendbares Recht auf Verträge über digitale Produkte 440

Dieser Beitrag zeigt, dass die Richtline (EU) 2019/770 zu Verträgen über digitale Inhalte und Dienstleistungen (DID-RL) nicht perfekt mit dem EU-Kollisionsrecht harmoniert. Hinsichtlich Verbraucherverträgen bewährt sich die Vertragstypneutralität des Art. 6 Abs. 1 Rom I-VO; allerdings erscheint die Dienstleistungsausnahme des Abs. 4 lit. a) im Kontext digitaler Produkte zweifelhaft. Richtigerweise lässt die Geoblocking-VO das Ausrichtungskriterium des Abs. 1 lit. b) unberührt. Eine überschießende Umsetzung des Verbraucherbegriffs der DID-RL läuft bei Eingriff des Kollisionsrechts leer. Mangelhaft ist hingegen der Unternehmerregress nach Art. 20 DID-RL. Die Regresskette (Umsetzungsvar. 1) kann reißen, wenn das CISG oder eine drittstaatliche Rechtsordnung greifen. Der Direktanspruch (Umsetzungsvar. 2) ist überlegen, da der Schaden nicht auf halber Strecke liegen bleibt. Nicht einschlägig ist die e-Commerce-RL, welche auch den Direktanspruch leerlaufen ließe. Treffen beide Umsetzungsvarianten zusammen, entstehen Systembrüche. Rechtspolitisch sollte der Unternehmerregress abgeschafft werden.

Entscheidungsrezensionen

P. Vollrath:
Bestandsschutz mitgliedstaatlicher Staatsverträge im europäischen IPR/IZVR 449

Der Verfasser bespricht die Entscheidung des EuGH vom 14.3.2024 (C 516/22), die im Rahmen eines Vertragsverletzungsverfahrens gegen das Vereinigte Königreich wegen einer Entscheidung des Supreme Court of the United Kingdom erging. Im Jahr 2020 hatte der Supreme Court die Vollstreckbarkeit eines ICSID Schiedsspruches angeordnet. Zwar war die Vollstreckung dieses Schiedsspruchs an sich mit dem Primärrecht der Union unvereinbar. Der Supreme Court hatte jedoch die Ausnahmevorschrift des Art. 351 Abs. 1 AEUV auf das ICSID Übereinkommen, ein multilaterales Abkommen, dem sowohl Mitgliedstaaten als auch Drittstaaten angehören, angewandt. Obwohl es sich um einen rein unionsinternen Sachverhalt handelte, war der Supreme Court zu dem Schluss gekommen, dass die „Rechte“ von Drittstaaten betroffen seien und daher eine Abweichung vom Primärrecht zulässig sei. Dafür hatte sich der Supreme Court maßgeblich darauf gestützt, dass das ICSID Übereinkommen den Vertragsstaaten sog. Verpflichtungen erga omnes partes auferlege. Dieser Einschätzung erteilt der EuGH in seiner Entscheidung eine Absage. Zudem beansprucht der EuGH erstmals eine Zuständigkeit, internationale Übereinkommen zwischen Mitgliedstaaten und Drittstaaten (jedenfalls in einzelnen Aspekten) auch im Rahmen eines Vorabentscheidungsverfahrens gem. Art. 267 AEUV verbindlich auslegen zu können. Dies bewertet der Verfasser vor dem Hintergrund der bisherigen Rechtsprechung des Gerichtshofs als überraschend, aus einer Perspektive der Einheitlichkeit des Unionsrechts aber als folgerichtig. Die Entscheidung lasse allerdings klare Kriterien für die Feststellung des erga omnes partes Charakters multilateraler Abkommen bzw. deren Einordnung unter Art. 351 Abs. 1 AEUV vermissen. Am Beispiel multilateraler Abkommen zum Internationalen Privat- und Verfahrensrecht entwickelt der Verfasser einen Vorschlag für die relevanten Abgrenzungskriterien. Schließlich werden die Auswirkungen der Entscheidung auf die TNT Express Nederland Rechtsprechung des EuGH untersucht, deren Neubewertung der Autor fordert.

C. Rüsing:
Internationale Zuständigkeit und anwendbares Recht bei der Miete von Ferienunterkünften 456

Nach Art. 24 Nr. 1 Abs. 1 EuGVVO sind für Verfahren, die die Miete von unbeweglichen Sachen zum Gegenstand haben, ausschließlich die Gerichte des Mitgliedstaats zuständig, in dem die Immobilie belegen ist. In der Rechtssache Roompot Service (C-497/22) entschied der EuGH, dass die Bestimmung keine Anwendung findet, wenn ein Tourismusunternehmen eine in einem Ferienpark gelegene Ferienwohnung zum kurzzeitigen Gebrauch zur Verfügung stellt und weitere Leistungen gegen einen Gesamtpreis anbietet. Der EuGH stützte sich vor allem auf ein sehr weites Verständnis der Figur von „gemischten Verträgen“ und auf eine Einzelfallprüfung, was zu erheblicher Rechtsunsicherheit führt. Der Beitrag kritisiert das und schlägt eine rechtssichere Alternativbegründung vor, die Verträge mit Tourismusunternehmen generell von der ausschließlichen Zuständigkeit ausnehmen würde.

 

P. Huber/M. Boussihmad:
Die Anerkennung der Errichtung eines schifffahrtsrechtlichen Haftungsbeschränkungsfonds durch Mitgliedstaaten und ihre Auswirkungen auf schuldrechtliche Ansprüche 463

Der BGH beschäftigte sich im vorliegenden Fall mit den prozessrechtlichen Wirkungen einer mitgliedstaatlichen Entscheidung zur Errichtung eines seerechtlichen Haftungsbeschränkungsfonds. Der EuGH hatte in der Vergangenheit solche Entscheidungen bereits als anerkennungsfähig i.R.d. EuGVVO eingeordnet. Der BGH hielt nunmehr als folgerichtige Konsequenz im Ergebnis streng an ihrer Wirkungserstreckung in andere Mitgliedstaaten nach Art. 36 Abs. 1 EuGVVO fest. Darüber hinaus äußert sich der BGH zu kollisionsrechtlich umstrittenen Fragen im schifffahrtsrechtlichen Haftungsbeschränkungs-recht.

J.O. Flindt:
Verfahrensentscheidende Vorfrage oder vorfrageähnliche Hauptfrage? Zur Qualifikation eines sachenrechtlichen Rückforderungsanspruchs im Rahmen des ehelichen Revokationsrechts 466

Die justizielle Zusammenarbeit in Zivil- und Handelssachen steht in Europa hoch im Kurs. Herzstück einer Europäisierung der internationalen Gerichtszuständigkeit ist die EuGVVO (auch Brüssel Ia-VO) bzw. das LugÜ, das die EuGVVO inhaltlich wie äußerlich weitgehend nachbildet und beispielsweise im Verhältnis der EU-Mitgliedstaaten zur Schweiz gilt. Daneben existiert eine Vielzahl weiterer EU-Rechtsverordnungen, die vereinheitlichte Regelungen über die internationale Zuständigkeit enthalten. Das gilt insbesondere im Familienrecht. Das OLG Karlsruhe musste in der von Jan Ole Flindt besprochenen Entscheidung zwei zuständigkeitsrechtlich miteinander konkurrierende Rechtsakte voneinander abgrenzen. Es geht um einen im Wege der Revokation (§ 1368 BGB) geltend gemachten sachenrechtlichen Rückforderungsanspruch, und es stellt sich die Frage, ob die Zuständigkeitsregeln des LugÜ oder des nationalen Verfahrensrechts anzuwenden sind. Dafür ist es erforderlich, den Rechtsstreit zu qualifizieren: Eine güterrechtliche Qualifikation löst die in Art. 1 Abs. 2 lit. a Var. 5 LugÜ niedergelegte Bereichsausnahme aus, sodass nationales Verfahrensrecht zum Zuge kommt, während eine sachenrechtliche Qualifikation zur Anwendbarkeit des LugÜ führt. Diese Abgrenzungsfrage ist auch für das Verhältnis zwischen EuGVVO einerseits und EuGüVO andererseits relevant. Das OLG Karlsruhe qualifiziert den Rechtsstreit sachenrechtlich. Der güterrechtliche Aspekt sei lediglich eine Vorfrage; die für die Abgrenzung entscheidende Hauptfrage betreffe ausschließlich dingliches Recht. Jan Ole Flindt unterzieht die Entscheidung einer kritischen Untersuchung und befürwortet eine differenzierende Lösung, wonach es bei Herausgabensprüchen, die auf die Unwirksamkeit der Verfügung mangels erforderlicher Zustimmung des anderen Ehegatten gestützt werden, darauf ankommt, ob der verfügende oder der revozierende Ehegatte die Herausgabe verlangt.

 

F. Berner:
Die Eingriffskondiktion im Internationalen Privat- und Verfahrensrecht 471

Die Einordnung der Eingriffskondiktion in die Kategorien des Internationalen Privat- und Verfahrensrechts bereitet Schwierigkeiten. Das OLG München meint, dass sowohl der nationale als auch der europäische Deliktsgerichtsstand für Ansprüche aus Eingriffskondiktion eröffnet sind. Unter der Rom II-VO sollen dieselben Ansprüche aber keine deliktischen sein, sondern unter Art. 10 Rom II-VO fallen – die Vorschrift für Bereicherungsansprüche. Die Anmerkung stimmt der Einordnung des OLG in Bezug auf die europäischen Vorschriften zu, nicht jedoch für das nationale Recht. Darüber hinaus werden die Ausführungen des Gerichts zur rügelosen Einlassung kritisiert.

Rezensierte Entscheidungen
(s. Seite III) 478

Blick in das Ausland

G. Cuniberti:
Französischer oberster Gerichtshof schließt Insolvenzverfahren vom Anwendungsbereich der auf Staatsangehörigkeit beruhenden Gerichtsbarkeit aus (Art. 14, C. civ.) 511

In einem Urteil vom 12.6.2024 begrenzte der französische oberste Gerichtshof (Cour de Cassation) den materiellen Anwendungsbereich der auf Staatsangehörigkeit beruhenden Gerichtsbarkeit (Artikel 14 des frz. Code Civil), indem er Insolvenzverfahren davon ausschloss. Das Urteil ist insoweit bemerkenswert, als der Gerichtshof damit zum ersten Mal seit Jahren die Anwendung dieser exorbitanten Zuständigkeitsregel eingeschränkt hat. Die Begründung des Gerichts ist jedoch stark fallbezogen, so dass es unwahrscheinlich ist, dass diese Entscheidung eine umfassendere Überprüfung dieser Vorschrift ankündigt, insbesondere unter dem Gesichtspunkt der Fairness gegenüber Ausländern.

M. Klein:
Spanische Zinsen zwischen Schuld- und Prozessstatut – Zur Qualifikation des spanischen Art. 20 Abs. 4 UAbs. 1 LCS, des § 287 ZPO und zur Rechtsprechung des EuGH zur Abgrenzung von Schuld- und Prozessrecht 513

Der Beitrag beschäftigt sich mit der der Abgrenzung von Schuld- und Prozessstatut und in diesem Rahmen mit der Qualifikation einer Vorschrift des spanischen Versicherungsrechts. Art. 20 Abs. 4 UAbs. 1 LCS bestimmt, dass beklagte Versicherungsgesellschaften ohne Antrag des Klägers zur Zahlung von Verzugszinsen verurteilt werden müssen. Da die Vorschrift Bezüge sowohl zum Prozessrecht als auch zum materiellen Recht hat, stellt sich die Frage ihrer Qualifikation. Der Beitrag spricht sich für eine versicherungsrechtliche Qualifikation aus. Ferner werden Kriterien besprochen, die der EuGH jüngst zur Unterscheidung von Verfahrensrecht und materiellem Recht herangezogen hat. Der Beitrag schlägt zuletzt eine weite Auslegung der Rom-Verordnungen vor in Bezug auf Art. 20 Abs. 4 UAbs. 1 LCS und ähnliche Vorschriften, die einen Bezug sowohl zum Prozessrecht als auch zum materiellen Recht haben.

Internationale Abkommen
518

Schriftumshinweise
519

Neueste Informationen
II, IV ff.

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