Heft 4/2023 (Juli 2023)

Aktuelles Heft

Abhandlungen

B. Heiderhoff:
Das Sorgerechtsverfahren nach der EuEheVO 2019 – Beschwörungen, Kompromisse und Hoffnungen 333

Angesichts der erheblichen Verlängerungen des Verordnungstextes geht der Beitrag der Frage nach, ob auch spürbare Verbesserungen erreicht worden sind. In Bezug auf die Zuständigkeit wird in der Verordnung vermehrt auf das "Kindeswohl" verwiesen. Die tatsächlichen Änderungen sind jedoch eher begrenzt sind und die notwendigen Kompromisse haben zu einigen Zweifelsfragen geführt. Dies gilt auch für die erweiterte Möglichkeit von Gerichtsstandsvereinbarungen, bei denen bereits jetzt heftig diskutiert wird, ob eine ausschließliche Zuständigkeitsvereinbarung über die in Art. 10 Abs. 4 EuEheVO 2019 genannten Fälle hinaus möglich ist.

Im Bereich der Anerkennung und Vollstreckung sind die Änderungen bedeutsamer. Es wird hierzu aufgezeigt, dass es zwar gut ist, dass mit der neuen Verordnung mehr Raum für den Schutz des Kindeswohls im Einzelfall geschaffen wurde. Die Änderungen bergen aber die Gefahr, dass sich die Gerichtsverfahren noch weiter verlängern.

Nur wenn die Vorschriften mit Augenmaß ausgelegt werden, können die gewünschten Verbesserungen erreicht werden. Alles in allem gibt es viele offene Fragen, bei denen man auf eine vernünftige Klärung durch den EuGH hoffen muss.

G. Ricciardi:
The practical operation of the 2007 Hague Protocol on the law applicable to maintenance obligations 340

Almost two years late due to the COVID-19 pandemic, in May 2022 over 200 delegates representing Members of the Hague Conference on Private International Law, Contracting Parties of the Hague Conventions as well as Observers met for the First Meeting of the Special Commission to review the practical operation of the 2007 Child Support Convention and the 2007 Hague Protocol on Applicable Law. The author focuses on this latter instrument and analyses the difficulties encountered by the Member States in the practical operation of the Hague Protocol, more than ten years after it entered into force at the European Union level. Particular attention is given to the Conclusions and Recommendations of the Applicable Law Working Group, unanimously adopted by the Special Commission which, in light of the challenges encountered in the implementation of the Hague Protocol, provide guidance on the practical operation of this instrument.

R. Freitag:
Für mehr Rechtswahlfreiheit im Internationalen Namensrecht! Kollisionsrechtliche Anmerkungen zum Referentenwurf zur Neuregelung des Namensrechts 347

Das Bundesministerium der Justiz (BMJ) hat am 11.4.2023 einen Referentenentwurf zur Neuregelung des Namensrechts vorgelegt. Kernanliegen des Vorhabens ist die Liberalisierung der Materie und zwar selbstredend zuallererst auf der Ebene des deutschen Sachrechts. Dass die für Namensgebung und -führung maßgeblichen Regeln nunmehr (endlich) grundsätzlich neu gefasst werden sollen, kann man nur begrüßen: Traditionell baut das deutsche Namensrecht auf den Prinzipien der Einheitlichkeit der Namensführung und der Namenskontinuität auf und räumt dem bzw. der Einzelnen trotz aller bereits unternommenen Reformen im internationalen Vergleich noch immer nur sehr geringe Wahlfreiheit bei der Namenswahl ein. Vor dem Hintergrund der geänderten politischen und sozialen Verhältnisse und der Bedürfnisse einer Einwanderungsgesellschaft wäre an sich die weitestgehende Freigabe des Rechts von Namensgebung und -führung geboten, zu der sich das BMJ aber derzeit offenbar nicht durchringen kann bzw. will. Das verwundert umso mehr, als eine gemeinsame Arbeitsgruppe von BMJ und BMI bereits 2018 Entsprechendes gefordert hatte. Durch die vorgeschlagene Reform soll es zwar auf der sachrechtlichen Ebene unbestreitbar erhebliche Fortschritte und mehr Raum für Selbstbestimmung geben, doch werden diese um den Preis einer ungemein kleinteiligen und komplexen, geradezu labyrinthischen Regulierung erkauft. Zudem sollen auch althergebrachte Prinzipien wie etwa der Grundsatz der (Nach-)Namenseinheit bei den Kindern und das öffentlich-rechtliche Namensänderungsverfahren nach dem NamensRÄndG fortbestehen, obwohl sie infolge der beabsichtigten Liberalisierung doch erheblich an Legitimität einbüßen. Hier sollte im weiteren Gesetzgebungsverfahren noch deutlich mehr Mut gezeigt und die Namensänderung bei Vorliegen eines sachlichen Grundes erlaubt werden.

Entscheidungsrezensionen

D. Coester-Waltjen:
Das Unwirksamkeitsverdikt für „Kinderehen“ auf dem Prüfstand der Verfassung 350

Fast fünf Jahre nach Vorlage durch den BGH hat das Bundesverfassungsgericht am 1.2.2023 entschieden, dass die Regelung des Art. 13 Abs. 3 Nr. 1 EGBGB, die die Unwirksamkeit einer unter Anwendung ausländischen Rechts wirksam geschlossenen Ehe ex lege anordnet, wenn mindestens einer der Eheschließungswilligen bei Eheschließung das 16. Lebensjahr noch nicht vollendet hatte, in der jetzigen Fassung verfassungswidrig ist. Das Gericht sieht zwar als legitime Ziele eines Unwirksamkeitsverdikts (1) den Schutz Minderjähriger, (2) die „Ächtung von Frühehen und (3) die Herstellung von Rechtsklarheit an. Es hält zur Erreichung dieser Ziele das Unwirksamkeitsverdikt auch prinzipiell für geeignet und erforderlich. Da der Gesetzgeber jedoch zum einen keine Regelung der Rechtsfolgen der Nichtehe getroffen und somit auch den Minderjährigen schutzlos lasse, zum anderen keine Möglichkeit der Heilung der Nichtehe vorgesehen habe, wenn der Minderjährige bei Erreichen der Volljährigkeit an der Ehe festhalten wolle, sei die Regelung nicht verhältnismäßig im engeren Sinne. Sie stelle damit einen verfassungswidrigen Eingriff in die Eheschließungsfreiheit dar.

Aus kollisionsrechtlicher Sicht fällt auf, dass die Entscheidung den speziellen Problemen bei (aus deutscher Sicht gegebener) Anwendbarkeit ausländischen Rechts und bei Anerkennung eines nach ausländischem Recht wohl erworbenen Status kaum Aufmerksamkeit schenkt. Vielmehr erstreckt das Gericht die sich aus seiner Sicht ergebenden Strukturmerkmale einer nach Art. 6 Abs. 1 GG geschützten Ehe gleichermaßen und ohne Abstufungen auf alle Ehen – unabhängig vom anwendbaren Recht und von einer wirksamen Eheschließung im Ausland.  Auch für die dem Gesetzgeber bei der Umsetzung in einfaches Recht gewährten Gestaltungsfreiräume und möglichen Typisierungen macht es keinen Unterschied zwischen Inlands- und Auslandsachverhalten. Insofern findet in mehrfacher Hinsicht für das Kollisionsrecht ein Paradigmenwechsel statt.

Der Beitrag setzt sich mit den Begründungen des Gerichts kritisch auseinander und blickt auf die Folgerungen für die künftige Gestaltung des internationalen Eheschließungsrechts.

O.L. Knöfel:
Rechtshilfe für pre-trial discovery in Deutschland! 360

Der besprochene Beschluss des BayObLG klärt wichtige Fragen des Rechts der internationalen Rechtshilfe in Zivilsachen, namentlich die Antragsbefugnis im Verfahren nach §§ 23-30 a EGGVG und die sachliche Reichweite der zu Art. 23 HBÜ abgegebenen Nichterledigungserklärung Deutschlands im Hinblick auf discovery-Rechtshilfeersuchen. Art. 23 HBÜ erfasst nur Urkundenbeweise, nicht Personenvernehmungen, und discovery-Ersuchen erfolgen nicht außerprozessual, so dass sie nicht an Art. 1 Abs. 2 HBÜ scheitern. Allein das Rechtshilfegericht ist berufen, Zeugnisverweigerungsrechte zu prüfen. Demgegenüber obliegt es der Zentralen Behörde, die Bestimmtheitsanforderungen nach Art. 3 HBÜ zu konkretisieren. Es kommen nur Rechtshilfeersuchen zur Ausführung, die nicht allgemein gehalten, d.h. zeitlich-gegenständlich hinreichend bestimmt sind. Freilich sind die Anforderungen daran im Lichte der Rechtsentwicklung in deutschen Zivilprozessrecht auch nicht zu überspannen. Die Neufassung des § 14 HBÜ-AusführungsG von 2022 ermöglicht erstmals Rechtshilfe deutscher Stellen für Rechtshilfe für pre-trial discovery von Urkunden, verlangt zum Schutz vor Ausforschung freilich, dass die vorzulegenden Urkunden genau bezeichnet, prozessrelevant und im Besitz einer Partei sind sowie der ordre public unangetastet und die Datenschutz-Grundverordnung gewahrt bleibt. Die - bis auf das Besitzerfordernis - begrüßenswerte Rechtsänderung ist im Lichte der §§ 142, 144 ZPO zu konkretiseren. Dabei kann auch von den Erfahrungen profitiert werden, die andere HBÜ-Vertragsstaaten mit der Erledigung von discovery-Rechtshilfeersuchen gemacht haben.

W. Wurmnest/C. Waterkotte:
Einstweiliger Rechtsschutz bei lauterkeitsrechtlichen Unterlassungsanordnungen 371

Immer dann, wenn ein Mitgliedstaat international zuständig ist, ist dieser im Anwendungsbereich der EuGVVO zur Justizgewährung verpflichtet. Soweit die EuGVVO nur die internationale Zuständigkeit normiert, aber die örtliche Zuständigkeit nicht festlegt, muss der von der Verordnung als international zuständig erklärte Mitgliedstaat ein örtlich zuständiges Gericht zur Verfügung stellen. Zu Recht betont auch der EuGH die Pflicht zur Bereitstellung eines in der Sache zuständigen Gerichts, wenn ein Mitgliedstaat nach dem Kompetenzregime der Verordnung international zuständig ist.

Stellt das nationale Recht des nach Unionsrecht international zuständigen Mitgliedstaates kein örtlich zuständiges Gericht zur Verfügung, greift im Wege der ergänzenden Verordnungsauslegung gefundene Regel: Die Gerichte in der Hauptstadt des international zuständigen Mitgliedstaates sind örtlich zuständig.

Für die Begründung der ausschließlichen internationalen Zuständigkeit eines Mitgliedstaates gemäß Art. 25 Abs. 1 EuGVVO genügt, dass nach dem Willen der Parteien allein die Gerichte dieses Mitgliedstaates entscheiden sollen. Die Beifügung einer Vereinbarung über das örtlich zuständige Gericht ist nicht erforderlich. Das Gleiche gilt, wenn zwar eine solche Vereinbarung existiert, aber unwirksam ist, es sei denn, die Parteien haben ausdrücklich die Wirksamkeit der Vereinbarung über die internationale Zuständigkeit von der Wirksamkeit der Vereinbarung über das örtlich zuständige Gericht abhängig gemacht.

I. Bach/M. Nißle:
Wenn der Verweis zum Bumerang wird – die Tücken des Unterhalts-IZPR 376

Art. 5 EuUnterhVO regelt für Kindesunterhaltsverfahren mit ausländischem Wohnsitz einer der Parteien die – internationale und örtliche – Zuständigkeit eines Gerichts infolge rügelose Einlassung. Dabei setzt die Norm ihrem Wortlaut nach nicht voraus, dass das Gericht den Antragsgegner zuvor auf die Möglichkeit einer Zuständigkeitsrüge und die Folgen einer rügelosen Einlassung hingewiesen hat – selbst wenn es sich bei ihm um einen minderjährigen Unterhaltsberechtigten handelt. Art. 5 EuUnterhVO bleibt damit nicht nur hinter dem Schutzniveau anderer europäischer IZPR-Verordnungen (Art. 26 Abs. 2 EuGVVO, Art. 8 Abs. 2 EuGüterVO, Art. 8 Abs. 2 EuPartVO) zurück, sondern steht auch zu den übrigen Normen der EuUnterhVO in Widerspruch, die auf die Gewährleistung größtmöglichen Schutzes für das minderjährige unterhaltsberechtigte Kind ausgerichtet sind. Dieser Widerspruch lässt sich bereits de lege lata – zumindest ein Stück weit – durch teleologische Reduktion des Art. 5 EuUnterhVO dahingehend auflösen, dass bei minderjährigen Unterhaltsberechtigen nur eine „informierte“ rügelose Einlassung zuständigkeitsbegründende Wirkung entfaltet. De lege ferenda ist eine klare und umfassende Positionierung des europäischen Gesetzgebers wünschenswert.

C. Krapfl:
Das Aus für US-amerikanische discovery Maßnahmen zur Unterstützung internationaler Schiedsverfahren 404

Am 13.6.2022 hat der US Supreme Court den seit langem schwelenden Streit ent-schieden, ob Section 1782 von Titel 28 der United States Code (Section 1782) auch discovery Maßnahmen zur Unterstützung von internationalen (Handels-)Schiedsverfahren erlaubt. Der US Supreme Court hat die Frage mit einem klaren Nein beantwortet. Private Streitbeilegungsgremien seien nach dem Wortlaut, der ein „foreign or international tribunal“ verlangt, nicht von Section 1782 erfasst. Viel-mehr müsse es sich um Streitbeilegungsgremien handeln, die entweder von einem Staat oder von mehreren Staaten mit Staatsgewalt ausgestattet seien.

L. Hübner/M. Lieberknecht:
Der Fall Okpabi – Vorläufiger Höhe- und Schlusspunkt der Human Rights Litigation in England? 407

In der Entscheidung Okpabi setzt der UK Supreme Court, eingekleidet in eine zuständig-keitsrechtliche Prüfung, seine zuletzt in Vedanta verfolgte Linie zur deliktischen Haftung für Menschenrechtsverletzungen in Konzernkonstellationen fort. Muttergesellschaften haf-ten hiernach nach allgemeinen deliktischen Regeln für von Tochter- und Enkelgesellschaften verursachte Schäden. Voraussetzung hierfür ist das Bestehen einer Sorgfaltspflicht der Kon-zernmutter gegenüber Dritten, das sich wiederum danach richtet, ob diese die Aktivitäten der Tochtergesellschaft faktisch kontrolliert oder öffentlich diesen Eindruck erweckt. Die bislang typischen Zuständigkeitsbegründungen – und damit womöglich Menschenrechtskla-gen im Vereinigten Königreich in der Breite – könnten sich allerdings infolge des Brexits als Auslaufmodell erweisen.

Rezensierte Entscheidungen

30 BVerfG 1.2.2023 1 BvL 7/18 Das Unwirksamkeitsverdikt für „Kinderehen“ auf dem Prüfstand der Verfassung [D. Coester-Waltjen, S. 350] 380

31 BayObLG 6.11.2020 101 VA 130/20 Rechtshilfe für pre-trial discovery in Deutschland! München [O.L. Knöfel, S. 360] 393

33 OLG Hamburg 4.4.2022 15 W 18/22 Einstweiliger Rechtsschutz bei lauterkeitsrechtlichen Unterlassungsanordnungen [W. Wurmnest/C. Waterkotte, S. 371] 397

34 BayObLG 11.11.2021 101 AR 145/21 Wenn der Verweis zum Bumerang wird – die Tücken des Unterhalts-IZPR [I. Bach/M. Nißle, S. 376] 

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