Heft 4/2022 (Juli 2022)

Abhandlungen

R. Wolfrum:
Achmea – neglecting of international public law – some afterthoughts 321

This contribution is not meant to assess the Achmea judgment of the European Court of Justice. It intends instead to throw some light on the rules of public international law on the termination of international treaties, which have not fully been taken into account by those who attempted to implement the Achmea judgment. At the core of is the question whether the incompatibility of a treaty under international law with another international law treaty leads to the automatic non-applicability of the former. The contribution concludes this is not generally the case under the Vienna Convention on the Law of Treaties. 

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P. Schlosser:
Die Gerichtsstandsvereinbarung und andere europarechtlich vollständig geregelte Verträge 326

FAO

Vor einigen Jahren hat der BGH entschieden, dass die Klage vor einem anderen als durch die Gerichtstandvereinbarung nach Art. 25 EuGVVO gedeckten Forum schadenersatzpflichtig macht. Der BGH hat wohl erkannt, dass es sich um einen europarechtlich gewährten Vertrag handelt. Denn nach erschöpfender Auseinandersetzung mit den zur Gerichtstandvereinbarung nach deutschem Recht entwickelten Theorien hat er es abgelehnt, die Frage dem EuGH vorzulegen, weil er das von ihm gefundene Ergebnis für eindeutig hielt. Das schließt die Prämisse ein, dass es sich um eine europarechtlich gewährte Vereinbarung handelt. Sinn dieses Beitrags soll es zunächst sein, herauszufinden, ob es auch andere Verträge und vor allem sekundäre Ansprüche aus Verträgen gibt, die ausschließlich vom Europarecht geregelt werden. Dabei sei die Frage auf die Rechtsfolgen einer Vertragsverletzung beschränkt und die Frage des Vertragsschlusses vorläufig offengelassen (II.). Das Ergebnis dieses Teils der Arbeit wird zeigen, dass es in der Tat solche Verträge gibt. Der zweite Teil der Arbeit soll sich der Frage zuwenden, welche Rechtsgrundsätze auf eine solche Vertragsverletzung angewandt werden müssen (III.). 

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S. Schwemmer:
Das Tokensachstatut – Zur kollisionsrechtlichen Behandlung der Übertragung von Bitcoin, Kryptowertpapieren und anderen Kryptotoken 331

Kryptotoken wie Bitcoin sind Einträge in einer dezentral geführten Datenbank. Als solche lassen sie sich ebenso schwer lokalisieren wie in zivilrechtliche Kategorien einordnen. Inzwischen erkennen aber nicht nur viele ausländische Rechtsordnungen die Eigentumsfähigkeit aller oder bestimmter Arten von Kryptotoken an. Auch das deutsche Recht stellt durch das eWpG tokenisierte Inhaberschuldverschreibungen herkömmlichen Wertpapieren gleich und definiert spezielle Übertragungsvoraussetzungen. Auf kollisionsrechtlicher Ebene ergibt sich hieraus ein wachsendes Bedürfnis für ein Tokensachstatut, dem Fragen der drittwirksamen Zuordnung von Kryptotoken unterfallen. Diese Fragen sind von den geschriebenen allgemeinen Kollisionsnormen nicht geregelt. Für elektronische Wertpapiere hat der deutsche Gesetzgeber mit § 32 eWpG eine Sonderkollisionsnorm geschaffen, während für andere Kryptotoken nach wie vor eine Regelungslücke besteht. Der Beitrag diskutiert mögliche Ansätze für ein Tokensachstatut. Dabei differieren die Möglichkeiten der räumlichen Schwerpunktbildung stark zwischen den verschiedenen Arten von Kryptotoken. 

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Entscheidungsrezensionen

B. Heiderhoff/E. Yalcin:
Internationale Zuständigkeit bei Erbringung einer Dienstleistung in verschiedenen Mitgliedstaaten (OLG München, S. 370) 339

Die Entscheidung des OLG München zeigt einmal mehr, dass die Bestimmung der internationalen Zuständigkeit nach Art. 7 Nr. 1 lit. b 2. Spiegelstrich EuGVVO in Fällen, in denen eine Dienstleistung in mehreren Mitgliedstaaten erbracht wird, erhebliche Schwierigkeiten bereiten kann. Wenn die Bestimmung eines überwiegenden Leistungsort nicht eindeutig möglich ist, wird seit der Entscheidung des EuGH in der Sache Wood Floor Solutions oft vorgeschlagen, auf den Wohnsitz des Dienstleisters abzustellen. Das kann zumindest dann überzeugen, wenn gerade an diesem Ort auch ein Teil der Dienstleistungen erbracht wurde. 

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W. Hau:
Internationale Zuständigkeit kraft Staatsangehörigkeit im Europäischen Familienverfahrensrecht (EuGH, Rs. C-522/20, S. 374) 342

Seit fast einem Vierteljahrhundert wird darüber diskutiert, ob der europäische Gesetzgeber die internationale Zuständigkeit in Ehesachen für Staatsangehörige des Gerichtsstaats früher eröffnen darf als für Staatsangehörige anderer Mitgliedstaaten. Nunmehr hat der EuGH entschieden, dass eine solche Regelung in Einklang mit dem Diskriminierungsverbot des Art. 18 AEUV stehe. Die Begründung hierfür erscheint nicht allzu tiefgründig und lässt einige Fragen offen. Das Urteil mag aber immerhin zu einer willkommenen Beruhigung im Bereich des europäischen Familienrechts beitragen, in dem sich in den letzten Jahren erhebliche Unterschiede zwischen den rechtspolitischen Grundüberzeugungen der Mitgliedstaaten gezeigt haben. 

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C. González Beilfusss:
Forum non conveniens auf europäische Art: ein misslungener Dialog (EuGH, Rs. C-422/20, S. 377) 345

Der EUGH hat in der hier kommentierten Entscheidung erstmals über das Zusammenspiel von Art. 6 lit. a und Art. 7 lit a EuErbVO entschieden und die Bindungswirkung der Unzuständigkeitserklärung für das später angerufene Gericht hervorgehoben. Dem Zweitgericht ist eine Überprüfung der Unzuständigkeitserklärung durch das Erstgericht nicht gestattet. Dieser Beitrag analysiert die Entscheidung insbesondere mit Bezug auf die fehlende Kommunikation zwischen den Gerichten, die ein reibungsloses Zusammenspiel beider Zuständigkeitsvorschriften erleichtert hätte.

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B. Hess:
Exequatur sur exequatur (ne) vaut? Der EuGH erweitertet die Freizügigkeit von Drittstaatenurteilen nach Art. 39 ff. EuGVVO (EuGH, Rs. C-568/20, S. 381) 349

In der Rs. C-568/20 entschied der EuGH, dass der Beschluss eines Gerichts eines EU-Mitgliedstaates, welcher die Entscheidung eines Drittstaates implementiert (sog. Merger-Urteil), gemäß Art. 39 ff. EuGVVO vollstreckbar ist. Die Dritte Kammer argumentierte, dass das Konzept der „Entscheidung" in Art. 2 lit. a und 39 EuGVVO auf Prozessrechte der EU-Mitgliedstaaten verweist. Burkhard Hess kritisiert die Abweichung von der einheitlichen und autonomen Interpretation der EuGVVO. Die Lösung der Dritten Kammer ist nicht vereinbar mit dem anerkannten Prinzip „exequatur sur exequatur ne vaut". 

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C. Thole:
Anfechtbare Drittzahlung auf fremde Schuld und das anwendbare Recht unter Art. 16 EuInsVO (EuGH, Rs. C-73/20, S. 384) 351

Mit seinem Urteil vom 22.4.2021 hat der Gerichtshof eine wichtige Klärung für die Bestimmung des maßgeblichen Rechts eines vom Insolvenzeröffnungsstaat abweichenden anderen Mitgliedstaats unter Art. 16 EuInsVO vorgenommen. Er hält bei Erfüllungshandlungen wie etwa Zahlungen die lex contractus und nicht das Verfügungsstatut für maßgeblich, und zwar auch dann, wenn ein Dritter die fremde Vertragsverpflichtung erfüllt. Der Beitrag stellt die Entscheidung und die sich daraus ergebenden Konsequenzen für grenzüberschreitende Anfechtungsklagen dar. 

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D. Wiedemann:
Erbstatut oder Verfahrensrecht des Forums? – Zur Qualifikation der Nachlasspflegschaft (OLG Köln, S. 386) 356

Die Entscheidung betrifft eine klassische Qualifikationsfrage: die Abgrenzung von lex successionis und lex fori. Das OLG Köln vertritt die Ansicht, dass die Nachlasspflegschaft von der Verweisung des Art. 21 EuErbVO in das brasilianische Recht nicht erfasst, sondern verfahrensrechtlich zu qualifizieren ist und damit der deutschen lex fori unterliegt. Auch wenn dem OLG Köln in der verfahrensrechtlichen Qualifikation der Nachlasspflegschaft nicht zuzustimmen ist, überzeugt die Entscheidung im Ergebnis: Deutsches Recht findet auf die Nachlasspflegschaft Anwendung. Selbst wenn das brasilianische IPR nicht zurückverweist, führt Art. 29 EuErbVO ins deutsche Recht. 

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R. de Barros Fritz:
Die Qualifikation von Schenkungen auf den Todesfall nach Erlass der EuErbVO (EuGH, Rs. C-277/20, S. 387) 360

Eine der umstrittensten Fragen seit dem Erlass der EuErbVO ist diejenige nach der Qualifikation von Schenkungen auf den Todesfall. Die Entscheidung in der Rechtssache UM bot dem EuGH die erste Gelegenheit, sich zu dieser Frage zu äußern. Die folgende Anmerkung wird sich mit dieser Entscheidung auseinandersetzen und zeigen, dass selbst nach dem Urteil des Gerichtshofs viele Fragen über die Qualifikation von Schenkungen auf den Todesfall weiterhin offenbleiben. 

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C. Thomale:
Rechtsarbitrage im Mitbestimmungsstatut der SE (BAG, S. 389 und LAG Hamburg, S. 392) 364

Die unionsrechtliche, supranationale Rechtsform der SE wird seit ihrer Einführung verbreitet dazu eingesetzt, nationales Mitbestimmungsrecht zu umgehen. Zur Besprechung gelangen zwei Entscheidungen, die das spezifische Arbitragepotential beleuchten, welches einerseits in der nationalrechtlichen Komponente des Gesellschafts- und Mitbestimmungsstatuts der SE und andererseits in der autonomen mitbestimmungsrechtlichen Verhandlungslösung liegt. 

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Rezensierte Entscheidungen

Heft
4/2022

21 OLG München – 26.2.2020 – 15 U 4202/19
Internationale Zuständigkeit bei Erbringung einer Dienstleistung in verschiedenen Mitgliedstaaten [B. Heiderhoff/E. Yalcin, S. 339] #369

22 EuGH – 10.2.2022 – Rs. C-522/20
Internationale Zuständigkeit kraft Staatsangehörigkeit im Europäischen Familienverfahrensrecht [W. Hau, S. 342] #373

23 EuGH – 9.9.2021 – Rs. C-422/20
Forum non conveniens auf europäische Art: ein misslungener Dialog [C. González Beilfuss, S. 346] #376

24 EuGH – 7.4.2022 – Rs. C-568/20
Exequatur sur exequatur (ne) vaut? Der EuGH erweitertet die Freizügigkeit von Drittstaatenurteilen nach Art. 39 ff. EuGVVO [B. Hess, S. 350] #380

25 EuGH – 22.4.2021 – Rs. C-73/20
Anfechtbare Drittzahlung auf fremde Schuld und das anwendbare Recht unter Art. 16 EuInsVO [C. Thole, S. 352] #383

26 OLG Köln – 9.12.2020 – 2 Wx 293/20
Erbstatut oder Verfahrensrecht des Forums? – Zur Qualifikation der Nachlasspflegschaft [D. Wiedemann, S. 357] #385

27 EuGH – 9.9.2021 – Rs. C-277/20
Die Qualifikation von Schenkungen auf den Todesfall nach Erlass der EuErbVO [R. de Barros Fritz, S. 361] #386

28 BAG – 18.8.2020 – 1 ABR 43/18 (A)
29 LAG Hamburg – 29.10.2020 – 3 TaBV 1/20
Rechtsarbitrage im Mitbestimmungsstatut der SE [C. Thomale, S. 365] #389 und 391

30 OGH – 29.6.2020 – 2 Ob 123/19f
Qualifikation des deutschen gemeinschaftlichen Testaments nach der EuErbVO – die österreichische Perspektive [D. Looschelders, S. 400] #395

31 OGH – 7.6.2017 – 3 Ob 89/17k
Vollstreckbarerklärung aufschiebend bedingter Titel und internationale Zuständigkeit für die Vollstreckungsabwehr [F. Eichel, S. 403] #396

Blick ins Ausland

D. Looschelders:
Qualifikation des deutschen gemeinschaftlichen Testaments nach der EuErbVO – die österreichische Perspektive (OGH, S. 396) 399

Ob die Bindungswirkung eines gemeinschaftlichen Testaments nach deutschem oder österreichischem Recht zu beurteilen ist, hat bei Erbfällen mit Verbindung zum deutschen und österreichischen Recht große praktische Bedeutung. Während das Recht zum Widerruf wechselbezüglicher Verfügungen nach deutschem Recht mit dem Tod des anderen Ehegatten erlischt, kann der überlebende Ehegatte seine wechselbezüglichen Verfügungen nach österreichischem Recht nämlich auch nach dem Tod des anderen Ehegatten frei widerrufen. Der hier besprochene Beschluss des österreichischem OGH behandelt vor diesem Hintergrund die für die Anknüpfung der Bindungswirkung entscheidende Frage, ob das gemeinschaftliche Testament des deutschen Rechts den „Verfügungen von Todes wegen außer Erbverträgen" i.S.d. Art. 24 EuErbVO zuzuordnen oder als Erbvertrag i.S.d. Art. 25 EuErbVO zu qualifizieren ist, und spricht sich im Ergebnis für die Anwendung des Art. 25 EuErbVO aus. 

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F. Eichel:
Vollstreckbarerklärung aufschiebend bedingter Titel und internationale Zuständigkeit für die Vollstreckungsabwehr (OGH, S. 397) 402

Der Beitrag behandelt die Auslandsvollstreckung von aufschiebend bedingten Titeln und beleuchtet im Anwendungsbereich der Exequaturverfahren die Frage, in welchem Verfahren geprüft wird, ob die Bedingung eingetreten ist. Berücksichtigt wird das deutsche, österreichische und schweizerische Verfahrensrecht. Ferner wird die Reichweite des Vollstreckungsgerichtsstands für die Verfahren zur Bedingungsprüfung untersucht. Der Entscheidung des OGH (v. 7.6.2017 – 3 Ob 89/17k) stimmt der Beitrag im Ergebnis zu, nicht aber in der Begründung. 

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A. Kirchhefer-Lauber:
Zur interreligiösen Rechtsspaltung und der Bedeutung der Kulturgebundenheit des Rechts am Beispiel des Libanons – Abgrenzung konstitutiver religiöser Eheschließung von staatlichen Registrierungsakten 408

Privatrechtsordnungen mit interpersonaler Rechtsspaltung stellen das Kollisionsrecht immer wieder vor besondere Herausforderungen. Der Beitrag beschäftigt sich mit dem Zusammenspiel von autonomem deutschen IPR und dem internen Kollisionsrecht eines Mehrrechtsstaates am Beispiel des Libanon, der neben einer „zivilen Rechtsordnung" insgesamt 18 religiöse Teilrechtsordnungen beheimatet. Die Verfasserin analysiert unter anderem Gerichtsentscheidungen, bei denen das Auseinanderfallen von konstitutiver religiöser Eheschließung und ziviler Dokumentation der Ehe im Libanon eine zentrale Rolle spielt. Sie geht darüber hinaus darauf ein, dass die Möglichkeit eines ordre public-Verstoßes bei Rechtsordnungen mit Rechtsspaltung auf zwei Ebenen besteht. Zum einen hinsichtlich des internen Kollisionsrechts des Mehrrechtsstaates selbst und zum anderen hinsichtlich der Ergebnisse durch die Anwendung einer Teilrechtsordnung. Schließlich stellt sie heraus, dass die Auslegungsmethode der Rechtsvergleichung zwischen zivilen und religiösen Teilrechtsordnungen ein besonderes Bewusstsein für die Bedeutung der Kulturgebundenheit des Rechts erfordert. 

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