Heft 1/2018 (Januar 2018)

Abhandlungen

B. Heiderhoff:
Die EU-Güterrechtsverordnungen 1

Der Beitrag beschreibt die wesentlichen Inhalte der EU-Güterrechtsverordnungen – EuGüVO (Ehe) und EuGüVO (Part). Der sachliche und personelle Anwendungsbereich wird erörtert und die Kollisionsnormen werden vorgestellt. Einige Probleme, die den Zeitpunkt der Begründung des gewöhnlichen Aufenthalts, die Ausweichklausel sowie Formerfordernisse betreffen, finden nähere Erörterung. Nach einer knappen Darstellung des Zuständigkeitsregimes schließt der Beitrag mit einer positiven Gesamtbewertung.

T. Koops:
Der Rechtskraftbegriff der EuGVVO – Zur Frage der Unvereinbarkeit der Entscheidung Gothaer Allgemeine Versicherung ./. Samskip GmbH mit der EuGVVO 11

In seiner Entscheidung Gothaer Allgemeine Versicherung ./. Samskip GmbH entwickelte der EuGH ein unionsrechtliches Rechtskraftkonzept. Hiernach erwachsen nicht nur der Tenor einer Entscheidung, sondern auch Vorfragen stets in Rechtskraft – unabhängig von der Reichweite der Rechtskraft in dem Staat, in dem das Urteil ergangen ist oder anerkannt werden soll. Dieser Beitrag zeichnet zunächst die frühere Rechtsprechung des EuGH nach, die eine unionsrechtliche Rechtskraft bereits implizit vorausgesetzt hat. Er zeigt dann auf, dass das in Gothaer Allgemeine Versicherung entwickelte Rechtskraftkonzept weder mit der Systematik noch mit den Zielen der EuGVVO vereinbar ist. Da das Zivilverfahrensrecht nur bruchstückhaft vereinheitlich ist, führt das unionsrechtliche Rechtskraftkonzept des EuGH zu Widersprüchen: Die rechtliche Wirkung einer Entscheidung bestimmt sich nach der unionsrechtlichen Rechtskraft, der Rechtsschutz der Parteien gegen diese Entscheidung richtet sich aber weiterhin nach dem Recht des Staates, in dem die Entscheidung ergangen ist. Um solche Widersprüche zu vermeiden, sollte die Rechtskraft einer Entscheidung im Ausgangspunkt nach dem Recht des Staates bestimmt werden, in dem sie ergangen ist. Gleichzeitig bedürfen viele Regeln der EuGVVO tatsächlich einer unionsrechtlichen Modifikation der Rechtskraft. Erforderlich ist aber gerade nicht, Vorfragen stets zu erfassen, sondern – anders als der EuGH in Gothaer Allgemeine Versicherung – Vorfragen teilweise von der Rechtskraft auszunehmen. Auf dieser Basis entwickelt der Beitrag ein Verfahren, mit dessen Hilfe sich die Reichweite der Rechtskraft einer Entscheidung im Anwendungsbereich der EuGVVO ermitteln lässt.

Entscheidungsrezensionen

P.F. Schlosser:
Bindung von Gesamtschuldnern des Hauptschuldners an Gerichtsstandsvereinbarungen? 22

Die Entscheidung des EuGH ist evidentermaßen zutreffend. Eine Gerichtsstandsklausel bindet nicht die Personen, die als Organmitglied oder Bevollmächtiger für den Vertragspartner gehandelt haben, dem gegenüber die Bindung geltend gemacht wird. Auch ein Seitenblick auf die Schiedsgerichtsbarkeit zeigt, dass dieselbe Regel auch dort gilt und die Rechtsprechung Formulierungen restriktiv behandelt, aufgrund derer eine solche Bindung beansprucht wird.

R. Magnus:
Die Erfüllungsortszuständigkeit bei Darlehen 23

Mit der Frage, wo bei einem Darlehensvertrag der Erfüllungsort i.S.d. Art. 5 Nr. 1 lit. b) EuGVVO 2001 zu finden ist, hatte sich Anfang 2017 das OLG Hamm auseinanderzusetzen. Das Gericht war dabei der Auffassung, dass insoweit eine Zuständigkeit für den Darlehensrück-zahlungsanspruch entweder am Wohnsitz des Darlehensgebers oder am Sitz der überweisen-den Bank anzunehmen sei. Dieses Ergebnis überzeugt jedoch nur teilweise und insbesondere erscheint die gewählte Begründung problematisch. In der Entscheidungsanmerkung werden deshalb auch alternative Begründungsmöglichkeiten aufgezeigt, auf die eine Zuständigkeit am Wohnsitz des Darlehensgebers gestützt werden könnte.

G. Schulze:
Die Fremdwirkung der Vertragserklärung als dreifachrelevante Tatsache – IZVR/IPR 26

Von der Fremdwirkung (Vertretererklärung) der Vertragserklärungen einer Geschäftsfrau hing es ab, ob diese für sich selbst oder als Organvertreterin für die Beklagte, eine spanische Kapi-talgesellschaft (S.L.) gehandelt hatte. Die materielle Vertragspartnerschaft war sowohl für die internationale Zuständigkeit (Gerichtsstandsvereinbarung nach Art. 23 Abs. 1 lit. a EuGVVO 2001 und besonderer Vertragsgerichtsstand nach Art. 5 Nr. 1 lit. b) als auch für die Begrün-detheit der auf Zahlung von restlichem Werklohn gerichteten Klage entscheidend (Passivlegitimation der Beklagten), so dass die vom EuGH (28.1.2015 C-375/13 – Harald Kolassa, IPRax 2016, 143) gebilligte Lehre von der doppel(t)relevanten Tatsache zum Zuge kam. Vor dem Hintergrund eines weiten unionalen Rechtskraftbegriffs nach der Entscheidung des EuGH in der Rs. Gothaer Versicherungs AG (15.11.2012 C-456/11, IPRax 2014, 163) erscheinen die tragenden Gründe dieser Lehre jedenfalls für Binnenmarktsachverhalte überholt.

Kollisionsrechtlich war zu klären, welchem Recht die Fremdwirkung einer vertraglichen Willenserklärung unterliegt. Dies führt zur Abgrenzung des von der Rom I-VO bestimmten deutschen Vertragsstatuts gegenüber dem für die organschaftliche Vertretung geltenden spanischen Gesellschaftsstatut (Art. 1 Abs. 2 lit. g Alt. 2 Rom I-VO). Zwar gehören die Mehrfachvertretung wie auch die mittelbare Stellvertretung zum Fragenkreis des materiellen Stellvertretungsrechts. Die Qualifikation führt aber zum Vertragsstatut, denn im Kern geht es hier um die Wahl des Vertragspartners und damit um die privatautonome Vertragspartnerwahlfreiheit. Auch die Neuregelung des Internationalen Stellvertretungsrechts enthält zu diesem Punkt keine explizite Regelung (Art. 8 EGBGB). Das OLG hat daher zutreffend die Passivlegitimation der Beklagten nach dem deutschen Vertragsstatut beurteilt und im dritten Schritt auf Sach-rechtsebene im Ergebnis zu Recht verneint.

D. Martiny:
Internationale Zuständigkeit und gewöhnlicher Aufenthalt des verstorbenen Grenzpendlers 29

Der Fall betrifft einen Zuständigkeitsstreit zwischen dem für den Wohnsitz der die Erbschaft ausschlagenden Tochter des Erblassers zuständigen AG Pankow/Weißensee und dem AG Wedding, in dessen Bezirk der Erblasser vor seinem Wegzug nach Polen gewohnt hatte. Obwohl der Erblasser in einer Wohnung in einer angemieteten Lagehalle in Polen gewohnt hatte, nimmt das KG noch einen gewöhnlichen Aufenthalt in Deutschland an. Dafür nennt es die dafür maßgeblichen und im Einzelnen dargelegten Kriterien, insbesondere seine Tätigkeit als „Grenzpendler“ in Deutschland und seine fehlende Integration in Polen. Die internationale und örtliche Zuständigkeit des AG Pankow/Weißensee wird für die Erbausschlagung auf Art. 13 EuErbVO i.V.m. § 31 IntErbRVG gestützt, ohne insoweit auf Art. 4 EuErbVO einzugeben. Die örtliche Zuständigkeit des AG Wedding für Sicherungsmaßnahmen für den Nachlass folgt aus dem letzten (tatsächlichen) Aufenthalt des Erblassers in diesem inländischen Gerichtsbezirk (§ 343 Abs. 2 FamFG).

B. Haidmayer:
Parallel rechtshängige Scheidungsverfahren in Deutschland und der Schweiz 35

Die Entscheidung betrifft die Koordination zweier rechtshängiger Scheidungsverfahren im internationalen Verhältnis. Über den Vorrang entscheidet im Unions- wie im autonom nationalen Recht das Prioritätsprinzip. Dreh- und Angelpunkt der Prüfung ist der für die Beurteilung maßgebliche Zeitpunkt; diesbezüglich aber divergieren die beiden Koordinationssysteme. Der Beitrag analysiert den Lösungsweg des KG und untersucht insbesondere, ob die EuEheVO Vorgaben für parallele drittstaatliche Verfahren enthält.

H. Roth:
Vollstreckungsbefehle kroatischer Notare und der Begriff „Gericht“ in der EuGVVO und der EuVTVO 41

Die beiden wichtigen Entscheidungen des EuGH verdienen Zustimmung. Ein auf Grundlage einer „glaubwürdigen Urkunde“ durch Erlass eines Vollstreckungsbefehls tätig gewordener kroatischer Notar ist kein „Gericht“ im Sinne der EuGVVO. Zudem fällt ein Zwangsvollstreckungsverfahren als „Zivilsache“ in den Anwendungsbereich des Art. 1 Abs. 1 EuGVVO, auch wenn eine Parkplatzgebühr für einen öffentlichen Parkplatz erhoben wird, der im Eigentum der Kommune steht.

K. Siehr:
Griechische Spargesetze und Arbeitsverträge, die deutschem Recht unterliegen 44

In verschiedenen Schulen Deutschlands unterrichten Lehrer “Neugriechisch” für Kinder mit zumindest einem Elternteil, der griechischer Staatsangehöriger ist. Diese Lehrer werden auf Grund von Verträgen tätig, welche die Regierung der Republik Griechenland mit ihnen abgeschlossen hat. Diese Verträge sehen vor, dass deutsche Gerichte für Streitigkeiten zuständig sind und dass deutsches Recht, einschließlich des BAT (Bundes-Angestellentarifvertrag), maßgebend ist. Das Gehalt wird von der griechischen Regierung gezahlt. Infolge der Finanzkrise Griechenlands reduzierte der griechische Staat seit 2009 gesetzlich die Gehälter von Staatsangestellten, darunter auch die Gehälter der Griechisch-Lehrer in Deutschland. Die Lehrer klagten in Deutschland mit Erfolg ihr volles Gehalt ein. Das BAG legte dem EuGH die Frage vor, ob Art. 9 der Rom I-VO gestatte, das Gehalt der Griechisch-Lehrer automatisch mit dem Erlass der griechischen Spargesetze zu reduzieren. Der EuGH verneinte diese Frage in seiner Entscheidung vom 18.10.2016 (C-135/15, Nikiforides); denn die griechischen Spargesetze seien zwar Eingriffsnomen im Sinne des Art. 9 Abs. 1 Rom I-VO, aber keine Eingriffsnormen eines Drittstaates, in dem die Verträge mit den Lehrern erfüllt werden sollen oder erfüllt werden (Art. 9 Abs. 3 Rom I-VO). Diese Norm des Art. 9 Abs. 3 Rom I-VO verbiete jedoch den Mitgliedstaaten nicht, drittstattliche Eingriffsnormen über das anwendbare Sachrecht zu beachten. Also sprach das BAG den klagenden Lehrern das volle Gehalt zu und überließ es der beklagten griechischen Regierung, nach deutschem Arbeitsrecht Änderungskündigungen auszusprechen und die griechischen Spargesetze        (als von der EU erwünschte Maßnahmen) als Rechtfertigung der Kündigungen nach deutschem Sachrecht zu berücksichtigen.

J. von Hein/B. Brunk:
Zur Wirksamkeit eines Herausformwechsels aus Deutschland 46

Die europäische Niederlassungsfreiheit (Art. 49, 54 AEUV) gebietet den EU-Mitgliedstaaten, die grenzüberschreitende Mobilität von Gesellschaften im Binnenmarkt zu ermöglichen. Dazu gehört nach der Rechtsprechung des EuGH in Cartesio (C-210/06), Vale (C-378/10) und jüngst Polbud (C-106/16) die Möglichkeit einer grenzüberschreitenden Verlegung des Satzungssitzes. Nachdem das OLG Nürnberg und das KG bereits Fälle von Hereinformwechseln nach Deutschland zu beurteilen hatten, lag der hier besprochenen Entscheidung des OLG Frankfurt erstmals ein Herausformwechsel einer deutschen GmbH ins EU-Ausland zugrunde. Obwohl die Voraussetzungen deutschen Umwandlungsrechts nicht erfüllt waren, gab das OLG Frankfurt der Beschwerde gegen die registergerichtliche Zurückweisung des Herausformwechsels unter Rückgriff auf die in Vale aufgestellten Grundsätze der Äquivalenz und Effektivität statt. Nach einer Analyse der kollisions- und sachrechtlichen Grundlagen des grenzüberschreitenden Rechtsformwechsels kommt die Entscheidungsbesprechung zu dem Ergebnis, dass der Begründung des OLG Frankfurt nicht gefolgt werden kann. Der Herkunftsmitgliedstaat ist nicht verpflichtet, grenzüberschreitende Vorgänge günstiger zu behandeln als inländische Vorgänge.

Rezensierte Entscheidungen

1 EuGH 28.8.2017 Rs. C-436/16 Bindung von Gesamtschuldnern des Hauptschuldners an Gerichtsstandsvereinbarungen? (EuGVVO 2001 Art. 23 Abs. 1) [Peter F. Schlosser, 22] 55
2 OLG Hamm 11.1.2017 30 U 107/16 Die Erfüllungsortszuständigkeit bei Darlehen [Robert Magnus, 23] 57
3 OLG Saarbrücken 22.12.2016 4 U 130/13 Die Fremdwirkung der Vertragserklärung als dreifachrelevante Tatsache [Götz Schulze, 26] 61
4 KG Berlin 26.4.2016 1 AR 8/16 Internationale Zuständigkeit und gewöhnlicher Aufenthalt des verstorbenen Grenzpendlers [Dieter Martiny, 29] 72
5 KG Berlin 3.2.2016 3 UF 78/15 Parallel rechtshängige Scheidungsverfahren in Deutschland und der Schweiz [Barbara Haidmayer, 35] 74
6, 7 EuGH 9.3.2017 Rs. C-551/15, Rs C-484/15 Vollstreckungsbefehle kroatischer Notare und der Begriff „Gericht“ in der EuGVVO und der EuVTVO [Herbert Roth, 41] 79, 83
8 BAG 26.4.2017 5 AZR 962/13 Griechische Spargesetze und Arbeitsverträge, die deutschem Recht unterliegen [Kurt Siehr, 44] 86
9 OLG Frankfurt a.M. 3.1.2017 20 W 88/15 Zur Wirksamkeit eines Herausformwechsels aus Deutschland [J. von Hein/B. Brunk, 46] 91
10 OGH 7.7.2017 7.7.2017 Internationale Zuständigkeit ü 96

Blick in das Ausland

F. Heindler:
Internationale Zuständigkeit für Individualklagen von Aktionären nach dem Dieselgate 103

Der Oberste Gerichtshof lehnte die internationale Zuständigkeit österreichischer Gerichte für Klagen österreichischer VW-Aktionäre im Gefolge des Dieselgate-Skandals ab. Die Entscheidung beruht grundlegend auf der Ablehnung des von den Klägern geltend gemachten deliktischen Gerichtsstands am Ort der Kontoführung, an dem die Kläger auch ihren Wohnsitz haben. Darüber hinaus erwog der Oberste Gerichtshof die Zulässigkeit der Gerichtsstandvereinbarung in der Satzung von Volkswagen und lehnte einen vertraglichen Verbrauchergerichtsstand ab. In der Entscheidungsrezension wird die vom Obersten Gerichtshof offen gelassene Diskussion zur Gerichtsstandvereinbarung in Satzungen weiter entwickelt und mit einer Stellungnahme abgeschlossen. Im zweiten Teil werden die Aussagen des Obersten Gerichtshofs zur Lokalisierung von Wertpapiervermögen für die Zwecke von Artikel 7 Nr. 2 EuGVVO (deliktischer Gerichtsstand) kritisch hinterfragt.

F. Koechel/B. Woldkiewicz:
Europäische Einlassungszuständigkeit und nationales Verfahrensrecht 107

Art. 26 EuGVVO knüpft die gerichtliche Zuständigkeit an eine Handlung des Beklagten im nationalen Verfahren. Autonomes Zuständigkeitsrecht und lex fori greifen notwendig ineinander. Eine aktuelle Entscheidung des polnischen Obersten Gerichts (Sąd Najwyższy, 3.2.2017, II CSK 254/16) betrifft das Zusammenspiel von Art. 26 EuGVVO und den Vorschriften der lex fori über die Parteistellung und Parteifähigkeit der lex fori: Zuständigkeitsbegründend einlassen kann sich nur, wer parteifähiger Beklagter im Sinne der lex fori ist. Im Verfahren vor den mitgliedstaatlichen Gerichten stellt sich die Frage, ob der schriftsätzliche Einwand des Beklagten seiner Nichtexistenz oder die Behauptung, er sei nicht die in der Klageschrift gemeinte Person, rügelose Einlassungen im Sinne der EuGVVO sind. Entgegen der Rechtsprechung des EuGH ist der Begriff der Einlassung nicht unter Rückgriff auf die lex fori, sondern autonom zu bestimmen. Schriftsätzliche Rechts- oder Tatsachenbehauptungen des Beklagten zu seiner Parteistellung und seiner Partei-, Prozess- oder Postulationsfähigkeit sind Einlassungen auf das Verfahren im Sinne des Art. 26 Abs. 1 S. 1 EuGVVO, unabhängig davon, ob die lex fori sie als „erstes Verteidigungsvorbringen“ qualifiziert. Allerdings bedarf im Einzelfall der Prüfung, ob die Behauptungen des Beklagten zu seiner Parteistellung zugleich Zuständigkeitsrügen im Sinne des Art. 26 Abs. 1 S. 2 EuGVVO sind. Auch für die Auslegung des Rügebegriffs ist nicht entscheidend, wie die Behauptungen des Beklagten nach der lex fori rechtlich zu beurteilen sind.

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