Heft 4 / 2017 (Mai 2017)

Abhandlungen

C. Kohler:
Grenzen des gegenseitigen Vertrauens im Europäischen Justizraum: Zum Urteil des EGMR in Sachen Avotin¸sˇ v. Lettland 333

In dem Urteil Avotiņš v. Lettland tritt der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte den Folgerungen entgegen, die der EuGH in seinem Gutachten 2/13 an den Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens zwischen EU-Mitgliedstaaten geknüpft hat. Der EGMR sieht die Gefahr, dass das Vertrauensprinzip des Unionsrechts in Konflikt mit den Verpflichtungen der Mitgliedstaaten aus der EMRK gerät. Bei der Urteilsanerkennung müsse der Zweitstaat im Falle einer substantiierten Beschwerde überprüfen können, ob der Schutz der Konventionsrechte im Urteilsstaat offensichtlich unzureichend war, auch wenn das Unionsrecht dies nicht zulasse. In der Besprechung wird das Urteil des EGMR im Lichte der neueren Rechtsprechung des EuGH bewertet, die dem effektiven Schutz der Grundrechte erhöhte Bedeutung zumisst. Angesichts dieser Rechtsprechung verblasst der Gegensatz zwischen den beiden europäischen Gerichten, deren Haltung im Wettbewerb um den Grundrechtsschutz in Europa neue Elemente der Konvergenz zeigt.

S. L. Gössl:
Art. 10a EGBGB - Vorschlag: Kollisionsrechtliche Ergänzung des Vorschlags zum Geschlechtervielfaltsgesetz (GVielfG) 339

Anfang 2017 veröffentlichte das Deutsche Institut für Menschenrechte ein Gutachten im Auftrag des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ) zum Thema “Geschlechtervielfalt im Recht“. Neben zahlreichen sachrechtlichen Änderungsvorschlägen und dem Entwurf eines neuen Gesetzes (dem Geschlechtervielfaltsgesetz – GVielfG) enthält das Gutachten eine Kollisionsnorm zur Geschlechtsbestimmung (Art. 10a EGBGB). Eine solche kann problematisch sein im Fall einer Geschlechtsänderung oder im Fall der Intersexualität, da die einzelnen Rechtsordnungen die rechtliche Geschlechtsbestimmung auf unterschiedliche Weisen vornehmen. Der Vorschlag baut auf der aktuellen deutschen Praxis auf, das rechtliche Geschlecht nach dem Heimatrecht der betroffenen Person zu bestimmen. Der Vorschlag erweitert die Grundanknüpfung an die Staatsangehörigkeit um eine Rechtswahlmöglichkeit zugunsten deutschen Rechts, sollte die betroffene Person oder im Fall eines Minderjährigen ein Elternteil den gewöhnlichen Aufenthalt im Inland haben. Diese Regelung entwickelt die aktuelle Rechtslage fort und reflektiert den sachrechtlichen Ansatz des Gutachtens: Das geltende Recht knüpft die Geschlechtszuordnung an biologisch-medizinische Faktoren an. Demgegenüber stellt der Gesetzesvorschlag, in Fortführung der Rechtsprechung des BVerfG, die Autonomie der betroffenen Personen ins Zentrum der rechtlichen Würdigung.

Entscheidungsrezensionen

R. Geimer:
Vertragsbruch durch Hoheitsakt: „Once a trader, not always a trader?“ – Immunitätsrechtlicher Manövrierspielraum für Schuldnerstaaten? (BGH, S. 370; OLG Oldenburg, S. 373; OLG Köln, S. 378; OLG Schleswig, S. 386) 344
P. Mankowski:
Zuordnung okkupierter oder annektierter Gebiete im IPR und IZVR(OLG München, S. 395) 347

IPR und IZVR sind für die Zuordnung von Orten zu Staaten nicht strikt an völkerrechtliche Vorgaben gebunden. Völkerrechtliche Vorgaben sind für sie nur Ausgangspunkt. Vielmehr stellen sie auf die Effektivität von Staatsgewalt ab. Denn nur effektiv ausgeübte Staatsgewalt kann private Rechtssubjekte dem Recht des betreffenden Staates unterwerfen. Nur effektiv ausgeübte Staatsgewalt gestaltet Lebenswirklichkeit für Betroffene. Betroffene können ihr andererseits (außer durch Auswanderung) nicht ausweichen. Für die Zwecke von IPR und IZVR ist ein annektiertes Gebiet als Gebiet des annektierenden Staates zu bewerten, wenn dieser dort effektive Staatsgewalt ausübt. Dies gilt unabhängig davon, ob die Regierung oder andere außenpolitisch verantwortliche Organe des Forumsstaates dies anerkannt haben. Dies gilt außerdem unabhängig davon, wie sich UNO oder EU zu jener Annektion verhalten. Ost-Jerusalem ist für die Zwecke von IPR und IZVR als Teil Israels zu bewerten.

F. Eichel:
Internationale Zustellung und Klagepriorität bei fehlenden oder fehlerhaften Übersetzungen der Klageschrift (AG Leverkusen, S. 396) 352

Art. 32 EuGVVO liegt der Satz zugrunde, dass ein Kläger für Zustellungsschwierigkeiten nicht verantwortlich ist und deshalb seine Priorität nicht verlieren kann, wenn ihn der Beklagte inzwischen mit einer Gegenklage in dessen Heimatforum überholt. Ob dieser Satz auch gilt, wenn die Zustellung der Klageschrift zunächst an der Annahmeverweigerung nach Art. 8 Abs. 1 EuZustVO scheiterte, weil der Kläger erst im „verspäteten“ zweiten Versuch mit (korrekter) Übersetzung zustellen ließ, haben deutsche Gerichte unterschiedlich beurteilt, weil nach Art. 5 EuZustVO immerhin der Kläger verantwortlich ist, ob übersetzt wird. Der Beitrag kommt zu dem Ergebnis, dass sich aus einem Zusammenspiel von Art. 32 EuGVVO mit der EuZustVO in solchen Fällen eine rückwirkende Rechtshängigkeit ergibt und der Kläger die Oberhand behält, wenn er innerhalb eines Monats bzw., in besonderen Fällen, ohne schuldhaftes Zögern eine erneute Zustellung mit Übersetzung veranlasst hat.

P. Huber:
Auf ein Neues: Vertrag und Delikt im europäischen I(Z)PR (EuGH, S. 396) 356

Der Aufsatz bespricht die Granarolo-Entscheidung des EuGH, der zufolge ein „Vertrag“ im Sinne der EuGVVO keine Schriftform voraussetzt und auch stillschweigend geschlossen worden sein kann. Der Verfasser stimmt der Entscheidung zu und vertritt, wie der EuGH, die Ansicht, dass es hinzunehmen sei, wenn auf diese Weise eine Norm, die im nationalen Recht als deliktisch eingeordnet wird, im Bereich der EuGVVO autonom als vertraglich qualifiziert wird. Er plädiert weiter dafür, diese Regel auch auf die Abgrenzung von Rom I-VO und Rom II-VO zu erstrecken.

D. Martiny:
Ausgleichsanspruch der regulierenden Kfz-Haftpflichtversicherung bei Gespannunfall im deutsch-litauischen Verhältnis (EuGH, S. 400) 360

Die Haftungs- und Regressproblematik in deutsch-litauischen Gespannunfällen ist dadurch geprägt, dass nach litauischem Recht eine vorrangige Eintrittspflicht des Versicherers der Zugmaschine besteht; der Zugmaschinen-Versicherer ist allein leistungspflichtig. Nach dem deutschen Recht des Unfallortes wird dagegen auch für Anhänger gehaftet (§ 7 StVG); sie unterliegen einer Versicherungspflicht. Es kann zu einer Mitversicherung i.S. des § 78 VVG kommen. Der Ausgleichsanspruch des das Unfallopfer entschädigenden litauischen Zugmaschinen-Versicherers gegen den ebenfalls litauischen Anhänger-Versicherer wurde vom EuGH und in einer Abschlussentscheidung vom 6.5.2016 auch vom litauischen OGH bejaht. Da die Kraftfahrzeug-Haftpflichtversicherungs-Richtlinie keine Kollisionsnorm enthält, wurde, ausgehend von der deliktischen Unfallhaftung nach Art. 4 Rom II-VO, der Ausgleich unter den Versicherern außervertraglich eingeordnet. Die eintretende Legalzession des Versicherers wurde zwar nach dem Versicherungsvertragsstatut (Art. 7 Rom I-VO) beurteilt, der Ausgleich selbst aber nach Art. 19 Rom II-VO über die Legalzession bei außervertraglicher Haftung vorgenommen. Auffällig ist die Nichtanwendung des Art. 20 Rom II-VO über die „mehrfache Haftung“ bezüglich der Versicherer, was sich aber nicht auf das Ergebnis auswirkte.

P.-A. Brand:
Zuständigkeit und anwendbares Recht bei Kartellschadensersatzklagen (LG Düsseldorf, S. 403) 366

Durch die Verabschiedung der Europäischen Kartellschadensersatzrichtlinie und deren Umsetzung in nationales Recht in den Mitgliedstaaten ist davon auszugehen, dass sich die Zahl der Kartellschadensersatzklagen vor Unionsgerichten weiter erhöhen wird. Dabei stehen häufig neben Kartellrechtsfragen Probleme der gerichtlichen Zuständigkeit und des anwendbaren Rechts im Fokus. Das Landgericht Düsseldorf hat in einer erstinstanzlichen Entscheidung zum Autoglas-Kartell, insbesondere zur internationalen Zuständigkeit für Klagen gegen gesamtschuldnerisch haftende Kartelltäter sowie zur Frage des anwendbaren Rechts vor und nach Inkrafttreten der 7. GWB-Novelle zum 1.7.2005 Stellung genommen. Die Entscheidung liefert einen wichtigen Beitrag zur Klärung von in Kartellschadensersatzverfahren häufig heftig umstrittenen Fragen des internationalen Zivilprozessrechts und des Internationalen Privatrechts. Dies betrifft insbesondere die Definition des Sachzusammenhangs im Sinne von Art. 6 EuGVVO a.F. (nunmehr Art. 8 EuGVVO n.F.) für die Feststellung der Gerichtszuständigkeit bei mehreren Beklagten und in Bezug auf das anwendbare Recht die Ablehnung des „Mosaikprinzips“ im Kartellschadensersatzrecht.

A. Schreiber:
Die Verbürgung der Gegenseitigkeit in der deutsch-russischen Anerkennungspraxis (OLG Hamburg, S. 406) 368

Zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Russischen Föderation besteht kein Staatsvertrag über die gegenseitige Anerkennung gerichtlicher Entscheidungen. In Deutschland setzt die Anerkennung nach autonomem Recht gem. § 328 Abs. 1 Nr. 5 ZPO die Verbürgung der Gegenseitigkeit voraus. Mit (nicht rechtskräftigem) Urteil vom 13.7.2016 (6 U 152/11) hat das OLG Hamburg das Vorliegen dieser Voraussetzung verneint. Die Entscheidungsrezension zeigt anhand einer Darstellung der dafür allein maßgeblichen russischen Anerkennungspraxis auf, dass diese Einschätzung des Gerichts fragwürdig ist.

Rezensierte Entscheidungen

16, 17, 18, 19 BGH, OLG Oldenburg, OLG Köln, OLG Schleswig 8.3.2016, 18.4.2016, 12.5.2016, 7.7.2016 VI ZR 516/14, 13 U 43/15, 8 U 44/15, 12 UF 1239/15 Vertragsbruch durch Hoheitsakt: „Once a trader, not always a trader?“ – Immunitätsrechtlicher Manövrierspielraum für Schuldnerstaaten? [R. Geimer, S. 344] 370
20 OLG München 18.12.2015 12 UF 1239/15 Zuordnung okkupierter oder annektierter Gebiete im IPR und IZVR [P. Mankowski, S. 347] 395
21 AG Leverkusen 7.10.2015 25 C 514/14 Internationale Zustellung und Klagepriorität bei fehlenden oder fehlerhaften Übersetzungen der Klageschrift [F. Eichel, S.352] 396
22 EuGH 14.7.2016 Rs. C-196/15 Auf ein Neues:Vertrag und Delikt im europäischen I(Z)PR [P. Huber, S. 356] 396
23 EuGH 21.1.2016 Rs. C-359/14 und C-475/14 Ausgleichsanspruch der regulierenden Kfz-Haftpflichtversicherung bei Gespannunfall im deutsch-litauischen Verhältnis [D. Martiny, S. 360] 400
24 LG Düsseldorf 19.11.2015 14d O 4/14 Zuständigkeit und anwendbares Recht bei Kartellschadensersatzklagen [P.-A. Brand, S. 366] 403
25 OLG Hamburg 13.7.2016 6 U 152/11 Die Verbürgung der Gegenseitigkeit in der deutsch-russischen Anerkennungspraxis [A. Schreiber, S. 368] 406

Rechtsprechungsübersicht

26 OLG Köln 8.7.2016 1 U 36/13 Zu den Restitutionsansprüchen der Erben eines jüdischen Kunsthändlers, der aufgrund des Verfolgungsdrucks des NS-Regimes im Jahr 1937 zum Verkauf seines Galeriebetriebs gezwungen war. [E.J.] 410

Blick in das Ausland

K. Siehr:
„Schnell gefreit, hat oft bereut“ – Internationale Zuständigkeit und Wahl des anwendbaren Rechts für die Scheidung einer gemischt-nationalen Ehe (Tribunale di Pordenone, 14.10.2014) 411

Die Italienerin X heiratete den Amerikaner Y am 23.11.2010 in Philadelphia/Pennsylvania. Das Eheglück war nur kurz. Im Januar 2011 trennten sich die Eheleute und vereinbarten die Scheidung nach dem Recht von Pennsylvania. Frau X kehrte nach Italien zurück, und Herr Y zog nach Texas. In Italien machte Frau X das Scheidungsverfahren anhängig. Das Tribunale di Pordenone erklärte sich für zuständig nach Art. 3 Abs. 1 lit. a letzter Spiegelstrich EuEheVO. Da die Parteien das Scheidungsstaut nach Art. 5 Abs.: 1 lit. c iVm Art. 14 lit. c Rom III – VO gewählt hatten, kam das gewählte Recht von Pennsylvania zur Anwendung. Danach waren die Voraussetzungen für eine Scheidung ohne vorherige gerichtliche Trennung gegeben. Die Parteien wurden geschieden, nachdem das Gericht festgestellt hatte, dass das Recht von Pennsylvania nicht gegen den italienischen ordre public verstößt. Auf das Ehegüterrecht kam kraft des nationalen IPR ebenfalls das Recht von Pennsylvania zur Anwendung. Jedoch war kein Zugewinn eingetreten, der zu verteilen war. Nachehelicher Unterhalt wurde nicht verlangt.

M. Wietzorek:
Zur Anerkennung und Vollstreckbarerklärung deutscher Entscheidungen in der Republik Zimbabwe 415

Der vorliegende Beitrag ist der Frage gewidmet, ob Entscheidungen deutscher Gerichte – insbesondere Zahlungsurteile ­– in der Republik Zimbabwe anerkannt und für vollstreckbar erklärt werden können. Nach einem Überblick über die Regelungen nach zimbabwischem statutory law und nach common law (einschließlich einer Darstellung der bisherigen Auslegung der einschlägigen Voraussetzungen beziehungsweise Versagungsgründe durch die zimbabwische Rechtsprechung) folgt eine Auseinandersetzung mit der Frage, ob die nach § 328 Abs. 1 Nr. 5 ZPO erforderliche Gegenseitigkeit im Verhältnis zu Zimbabwe verbürgt ist.

A. Anthimos:
Frischer Wind in der Anerkennung ausländischer Volljährigenadoptionen in Griechenland (Plenum des Areopags 9/2016) 419

Am 22. September hat das Plenum des Areopags ein bahnbrechendes Urteil über die Anerkennung ausländischer Volljährigadoptionen erlassen. Das Urteil stellt sich als ein Paradebeispiel für die Berücksichtigung der Entscheidungen des EGMR dar, insbesondere angesichts des berüchtigten Falles in der Sache Negrepontis. Gleichzeitig nimmt das Urteil Abstand von der früheren Rechtsprechung des Obersten griechischen Gerichtshofs.

Mitteilungen

M. Dietrich:
Internationalizing the Conflict of Laws Restatement –Symposium zum Restatement Third of Conflict of Laws an der Duke Law School vom 4. bis 5.11.2016 420
C. Schmitz/E. Gubenko:
Die Europäischen Güterrechtsverordnungen Wissenschaftliches Symposium in Würzburg 422
E. Jayme/S. Seeger:
DasVermögensstatut in Ehe- und Erbrecht aus portugiesischer und deutscher Sicht unter Berücksichtigung der jüngsten europäischenVerordnungen – Tagung in Lissabon 424

Mitteilungen

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