Heft 5/ 2016 (September 2016)

Abhandlungen

B. Hess:
Back to the Past: BREXIT und das europäische internationale Privat- und Verfahrensrecht 409
R. Freitag:
Art. 9 Rom I-VO, Art. 16 Rom II-VO als Superkollisionsnormen des Internationalen Schuldrechts? Gedanken zum Verhältnis zwischen internen und externen Lücken des EuIPR 418

Zehn Jahre nach Erlass der Rom II- und neun Jahre nach derjenigen der Rom I-VO ist eine zentrale Frage des Europäischen Internationalen Schuldrechts noch immer ungeklärt: Sind die beiden ersten römischen Verordnungen auf vertragliche Schuldverhältnisse im engeren Sinne (Rom I-VO) sowie auf Schuldverhältnisse aus Delikt, Bereicherungsrecht, Geschäftsführung ohne Auftrag und culpa in contrahendo – ebenfalls jeweils im engeren Sinne – (Rom II-VO) beschränkt oder haben die Verordnungen komplementäre Anwendungsbereiche, die zu einem kollisionsrechtlichen Kontinuum verschmelzen, das jedes Schuldverhältnis umfasst? Die aufgeworfene Fragestellung ist von Bedeutung für eine ganze Reihe hybrider sachrechtlicher Institute, die nicht unmittelbar freiwillig übernommene Leistungspflichten betreffen, sich aber auch nicht als Schuldverhältnisse aus Delikt, Bereicherungsrecht, Geschäftsführung ohne Auftrag bzw. culpa in contrahendo einordnen lassen. Anliegen des Aufsatzes ist es aufzuzeigen, dass die wünschenswerte einheitliche Behandlung dieser Institute im Europäischen Kollisionsrecht de lege lata nicht möglich ist und insbesondere auch ihre zum Teil geforderte (scheinbar) autonome Anknüpfung nach den für Eingriffsnormen konzipierten Art. 9 Rom I-VO, Art. 16 Rom II-VO ausscheiden muss.

Entscheidungsrezensionen

K. Thorn/C. Lasthaus:
Das Pechstein-Urteil des BGH – ein Freibrief für die Sportschiedsgerichtsbarkeit? (BGH, S. 458 ) 426

In seinem Pechstein-Urteil vom 7.6.2016 hatte der BGH über die Wirksamkeit von Schiedsvereinbarungen zwischen Athleten und Sportverbänden zugunsten des Court of Arbitration for Sport (CAS) zu entscheiden. Im Ergebnis kam der BGH zur Wirksamkeit der Schiedsvereinbarung zwischen Pechstein und der ISU und versagte der mehrfachen Olympiasiegerin so den ordentlichen Rechtsweg.

Vor dem Hintergrund, dass Profisportler angesichts der Monopolstellung der Verbände faktisch dazu gezwungen sind, die Schiedsklausel im Rahmen ihrer Athletenvereinbarung zu unterschreiben, kritisieren die Verfasser dieser Rezension das Urteil des BGH. Schiedsvereinbarungen im Sport können nur dann als wirksam erachtet werden, wenn das Verfahren vor dem „vereinbarten“ Schiedsgericht rechtsstaatlichen Anforderungen entspricht. Die fehlende Freiwilligkeit im engeren Sinne muss durch eine stärkere gerichtliche Kontrolle der Einhaltung rechtsstaatlicher Mindeststandards ausgeglichen werden. Das Schiedsverfahren vor dem CAS erfüllt diese Mindestanforderungen insbesondere aufgrund des Einflusses der Verbände auf die Zusammensetzung der geschlossenen Schiedsrichterliste nicht. Hinzu kommt, dass die konkret gewählten Schiedsrichter ihre Benennungen in früheren Schiedsverfahren nicht offenlegen müssen. Durch diese Intransparenz wird die Möglichkeit der Ablehnung eines Schiedsrichters wegen Befangenheit entwertet.

Auch wenn der auf internationale Wettbewerbe ausgerichtete Leistungssport auf eine einheitliche Auslegung und Anwendung des Sportrechts durch eine autonome Rechtsprechungsinstanz in Form eines Schiedsgerichts angewiesen ist, um die erforderliche Chancengleichheit zwischen den Sportlern zu schaffen, so darf dies nicht zu Lasten der Verfahrensgrundrechte der Sportler geschehen.“

C. Mayer:
Vaterschaftsfeststellung für Embryonen: Qualifikation, Kollisionsrecht, Sachrecht (OLG Düsseldorf, S. 466) 432

Das OLG Düsseldorf musste jüngst über den Antrag eines Mannes entscheiden, ihn als rechtlichen Vater von neun Embryonen festzustellen, die aus seinen Spermazellen und Eizellen einer kalifornischen Spenderin entstanden sind und derzeit in kryokonserviertem Zustand in einer Fortpflanzungsklinik in Kalifornien aufbewahrt werden. Mit der vorschnellen Anwendung des deutschen Abstammungsrechts übersieht das Gericht die vorgelagerte Frage, ob die Beurteilung, ab wann eine Vaterschaftsfeststellung möglich ist, verfahrensrechtlich oder materiell-rechtlich zu qualifizieren und daher nach der lex fori oder lex causae zu beurteilen ist. Auch die kollisionsrechtlichen Erwägungen des OLG Düsseldorf, mit denen es eine analoge Anwendung von Art. 19 Abs. 2 S. 1 EGBGB ablehnte, vermögen nicht zu überzeugen, zumal unbeantwortet bleibt, welche Kollisionsnorm stattdessen das anwendbare Recht bestimmen soll.

K. Siehr:
„Die Entführung in das Serail“ – Strafrechtliche Verantwortung eines Kindesentführers wegen Entziehung Minderjähriger (BGH, S. 467) 436

Der in Deutschland geschiedene syrische Vater einer 15-jährigen Tochter wollte mit seiner geschiedenen Ehefrau und seiner Tochter das Jahresende 2006 bei seinen Verwandten in Syrien verbringen. Nach Ablauf des Besuchsfrist hielt der Vater seine Tochter in Syrien fest, schickte sie nicht zur Schule, verbat ihr, das Haus ohne Begleitung durch eine erwachsene Person zu verlassen, schlug sie bei aufmüpfigem Verhalten und wollte sie so „ungünstigen Verhältnissen“ in Deutschland entziehen. Erst als die Tochter 18 Jahre alt geworden war, gelang ihr die Flucht nach Deutschland. Die Mutter stellte Strafanzeige wegen Verletzung des § 235 StGB (Entziehung Minderjähriger). Der BGH verurteilte den Vater. Er habe nicht das Sorgerecht gehabt, habe das Sorgerecht der Mutter verletzt und die Tochter habe sich nie in Syrien eingelebt; denn sie sei gefangen gesetzt worden ohne Verbindungen zur Außenwelt. Die privatrechtliche Vorfrage des Sorgerechts wird zutreffend nach deutschem IPR beantwortet. Richtiger wäre es gewesen, nicht Art. 21 EGBGB zu bemühen, sondern die deutsche Entscheidung zum Sorgerecht der Mutter.

C. F. Nordmeier:
Erbannahme, Erbausschlagung und ihre Anfechtung bei Nachlassspaltung nach EGBGB und EuErbVO (OLG Hamburg, S. 470) 439

Im Internationalen Erbrecht wirft eine Nachlassspaltung kraft Teilrückverweisung eine Reihe besonderer Probleme auf. Der vorliegende Beitrag behandelt in einem deutsch-thailändischen Fall Erbannahme, Erbausschlagung und ihre Anfechtung. Für die Form dieser Erklärungen gilt Art. 11 Abs. 1 EGBGB. Erfasst wird auch die Frage, ob eine Erklärung amtsempfangsbedürftig ist, wenn das Erbstatut den Empfang durch eine Behörde oder ein Gericht vorsieht, diesem aber keine inhaltliche Prüfung der Erklärung auferlegt. Bei der Anfechtung einer Erbannahmeerklärung wegen eines Irrtums über die Überschuldung kann auch die Unkenntnis von der Nachlassspaltung einen Anfechtungsgrund begründen. Der zweite Teil des Beitrags richtet den Blick auf die EuErbVO. Bei Nachlassspaltung begründet Art. 13 EuErbVO eine Zuständigkeit zur Entgegennahme von Annahme- und Ausschlagungserklärungen auch hinsichtlich eines Spaltnachlasses, der nicht in einem Mitgliedstaat belegen ist, wenn sich Vermögen eines anderen Spaltnachlasses in einem Mitgliedstaat befindet. Anfechtung und Widerruf einer der in Art. 13 EuErbVO und Art. 28 EuErbVO genannten Erklärungen werden von den beiden Bestimmungen erfasst.

W. Wurmnest:
Der Anwendungsbereich des deutsch-iranischen Niederlassungsabkommens bei erbrechtlichen Streitigkeiten und deutscher ordre public (AG Hamburg-St. Georg, S. 472) 447

Der Beitrag analysiert auf Grundlage eines Beschlusses des AG Hamburg-St. Georg unter welchen Voraussetzungen das Erbstatut auf Grundlage des Deutsch-Iranischen Niederlassungsabkommens von 1929 zu ermitteln ist, das dem autonomen Recht bzw. nunmehr der EuErbVO vorgeht. Ferner beleuchtet der Beitrag die Reichweite des deutschen ordre public bei Anwendung des schiitisch-iranischen Erbrechts. Ein vollständiger gesetzlicher Erbausschluss von Abkömmlingen wegen Religionsverschiedenheit und/oder der nicht-ehelichen Abstammung ist mit dem deutschen ordre public nicht vereinbar. Diese Erbausschlussgründe dürfen daher nicht angewendet werden, sofern der Erblasser die Diskriminierung nicht ausdrücklich gebilligt hat.

C. Thole:
Ausländische Restschuldbefreiung und deutsche Gläubigeranfechtung nach dem AnfG (BGH, S. 476) 453

Die Entscheidung des BGH verhält sich zu der Frage, ob eine in einem englischen Insolvenzverfahren erlangte Restschuldbefreiung (discharge) einer nachfolgenden Einzelgläubigeranfechtung nach dem AnfG entgegensteht. Der BGH verneint dies nur im Ergebnis mit Recht, während die Begründung nicht in allen Punkten zu überzeugen vermag. Insbesondere wirft die Entscheidung eine Reihe von Folgefragen nach dem Verhältnis von (ausländischen) Insolvenz- und Planverfahren zur deutschen Einzelgläubigeranfechtung auf.

Rezensierte Entscheidungen

37 BGH 7.6.2016 6 KZR 6/15 Das Pechstein-Urteil des BGH – ein Freibrief für die Sportschiedsgerichtsbarkeit? [K. Thorn/C. Lasthaus, S. 426] 458
38 OLG Düsseldorf 31.7.2015 II-1 UF 83/14 Vaterschaftsfeststellung für Embryonen: Qualifikation, Kollisionsrecht, Sachrecht [C. Mayer, S. 432] 466
39 BGH 22.1.2015 3 StR 410/14 „Die Entführung in das Serail“ – Strafrechtliche Verantwortung eines Kindesentführers wegen Entziehung Minderjähriger [K. Siehr, S. 436] 467
40 OLG Hamburg 20.10.2014 2 UF 70/12 Erbannahme, Erbausschlagung und ihre Anfechtung bei Nachlass- spaltung nach EGBGB und EuErbVO [C. F. Nordmeier, S. 439] 470
41 AG Hamburg 13.4.2015 970 VI 1645/12 Der Anwendungsbereich des deutsch-iranischen Niederlassungs- St. Georg abkommens bei erbrechtlichen Streitigkeiten und deutscher ordre public [W. Wurmnest, S. 447] 472
42 BGH 12.11.2015 IX ZR 301/14 Ausländische Restschuldbefreiung und deutsche Gläubigeranfechtung nach dem AnfG [C. Thole, S. 453] 476

Blick ins das Ausland

F. Ferrari/F. Rosenfeld:
Yukos revisited – A case comment on the set-aside decision in Yukos Universal Limited (Isle of Man) et al. v. Russia 478

In einer Entscheidung vom 20.4.2016 hat das Amtsgericht Den Haag sechs Schiedssprüche in den Verfahren Yukos Universal Limited (Isle of Man) et. al. gegen Russland aufgehoben. Das Schiedsgericht hatte Russland wegen Verletzung des Energiecharta Vertrags zur Zahlung von USD 50 Milliarden Schadensersatz verurteilt. Nach der Entscheidung des Amtsgerichts Den Haag war das Schiedsgericht dabei zu Unrecht von der vorläufigen Anwendbarkeit des Energiecharta Vertrags ausgegangen. Infolgedessen konnte das Schiedsgericht seine Zuständigkeit nicht auf die Schiedsklausel in Art. 26 des Energiecharta Vertrags stützen. Die vorliegende Fallbesprechung beleuchtet die Aufhebungsentscheidung des Amtsgerichts Den Haag und ihre Auswirkungen auf laufende Vollstreckungsverfahren. Dabei werden verschiedene Ansätze zur Vollstreckung aufgehobener Schiedssprüche dargestellt.

P. Mankowski:
Drittstaatliche Embargonormen, Außenpolitik im IPR, Berücksichtigung von Fakten statt Normen: Art. 9 Abs. 3 Rom I-VO im praktischen Fall (zu Cour d’appel de Paris, 25.2.2015 – 12/23757) 485

Drittstaatliche Eingriffsnormen sind ein viel diskutiertes Thema. Allerdings kommen sie selten vor Gericht. Wenn sie aber vor Gericht kommen, wird es schnell hochpolitisch. Embargonormen werden zum Musterfall. Die USA haben Embargonormen besonders häufig und mit besonders großer Reichweite erlassen. Die Cour d’appel de Paris macht indes kurzen Prozess mit dem US-Embargo gegen den Iran. Es lässt dieses Embargo ohne viel Federlesens an dem Umkehrschluss aus Art. 9 Abs. 3 Rom I-VO scheitern. Blocking Statutes des Forumstaates fügen eine weitere politische Dimension hinzu. Eine Sonderanknüpfung zu verneinen schließt aber nicht aus, in Durchsetzung von Embargonormen geschaffen Fakten im Rahmen des anwendbaren Sachrechts zu berücksichtigen. Diesen Aspekt lässt die Cour d’appel de Paris außer Acht. Außerdem gilt es, Reaktionsmöglichkeiten der betroffenen Privaten durch vertragliche Gestaltung zu betrachten.

C. Thomale:
Anerkennung ukrainischer leihmutterschaftsbasierter Geburtsurkunden in Italien (zu Corte Suprema di Cassazione, 26.9.2014 – Nr. 24001) 493

Der italienische Kassationsgerichtshof hat einer ukrainischen Geburtsurkunde, welche leihmutterschaftliche Bestelleltern als rechtliche Eltern auswies, die Anerkennung versagt. In seinen Urteilsgründen befasst sich der Gerichtshof eingehend mit Grundfragen des ordre public, des Kindeswohls sowie dem Verhältnis von Leihmutterschaft und Adoption. Die Besprechung greift diese Impulse auf und plädiert für eine Reform des Adoptionsrechts.

M. Zilinsky:
Die neue Regelung des Kollisionsrechts in den Niederlanden: die Einführung von Boek 10 BW 498

Am 1.1.2012 ist das 10. Buch des Bürgerlichen Gesetzbuches (Boek 10 [Internationaal privaatrecht] Burgerlijk Wetboek) in den Niederlanden in Kraft getreten. Hiermit wird das bestehende niederländische Bürgerliche Gesetzbuch um einen Teil ergänzt, in dem die in der Vergangenheit geltenden Regelungen des Kollisionsrechts zu einer gesamten Regelung vereinigt werden. Das erste Ziel dieses Gesetzgebungsverfahrens war die Konsolidierung des niederländischen internationalen Privatrechts. Das zweite Ziel war die Kodifizierung bestimmter in der Rechtspraxis entwickelter Regeln. Dieser Beitrag ist keine vollständige Abhandlung zum niederländischen Kollisionsrecht. Der Beitrag beabsichtigt nur den neuen Teil des Bürgerlichen Gesetzbuches zu erläutern.

Mitteilungen

M. Sonnentag:
Kohärenz im Internationalen Privat- und Verfahrensrecht der Europäischen Union – Tagung in Freiburg im Breisgau, 10./11.10.2014 504
L. Hübner:
Grundfragen des Europäischen Kollisionsrechts – Tagung des Jungen Kollegs der Bayerischen Akademie der Wissenschaften 508
A. Botthof:
Ein Name in ganz Europa – Entwurf einer Europäischen ¬Verordnung über das Internationale Namensrecht: Tagungsbericht zum Workshop in Marburg am 27.11.2015 510
L. Rademacher:
Einhundert Jahre Institut für Rechtsvergleichung – ¬Kaufrecht und Kollisionsrecht von Ernst Rabel bis heute – Tagung des Instituts für Rechtsvergleichung, München 511

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