Heft 2/2013 (März 2013)

Abhandlungen

M. Pohl
Die Neufassung der EuGVVO – im Spannungsfeld zwischen Vertrauen und Kontrolle 109

Rund zwei Jahre nach Vorlage des Kommissionsvorschlags wurde am 6.12.2012 die Neufassung der EuGVVO verabschiedet. Sie ersetzt ab dem 10.1.2015 die Verordnung (EG) Nr. 44/2001 über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen. Der nachfolgende Beitrag stellt die wesentlichen Änderungen vor.

M. Coester
Art. 17b EGBGB unter dem Einfluss des Europäischen Kollisionsrechts 114

Das familienrechtliche Kollisionsrecht der EU gewinnt zunehmend an Substanz (Unterhaltsrecht, Scheidungsrecht, Erbrecht, demnächst wohl auch Güterrecht mit Versorgungsausgleich). Zum Teil verdrängt es nationales Kollisionsrecht, im Übrigen beeinflusst es aber auch deren verbliebene Regelungselemente. Das Kollisionsrecht für registrierte Lebenspartnerschaften wird mit der geplanten EU-GüterrechtsVO für Lebenspartnerschaften erstmalig unmittelbar Gegenstand von EU-Kollisionsrecht; das deutsche Kollisionsrecht (Art. 17b EGBGB) wurde aber zuvor schon von in Kraft getretenen EU-Verordnungen mittelbar beeinflusst. Diese Entwicklungen sowie der auf Diskriminierungsschutz fokussierte Kontrollansatz von BVerfG, EuGHMR und EuGH wirft die Frage nach einer grundlegenden Revision des Art. 17b EGBGB auf, deren Ziel es ist, diese Vorschrift dem Verfassungsrecht und supranationalem Recht anzupassen.

E. Wagner/ M. E. Mann
Die Kaufmannseigenschaft ausländischer Parteien im Zivilprozess 122

Die funktionale Zuständigkeit des angerufenen Gerichts hängt nach § 95 GVG von der Kaufmannseigenschaft der Prozessparteien ab. Bei Streitigkeiten im internationalen Geschäftsverkehr führt dies nicht selten zu Schwierigkeiten. Denn ist eine im Ausland ansässige Partei beteiligt, stellt sich die Frage, nach welchem Recht deren Kaufmannseigenschaft zu bestimmen ist. Höchstrichterliche Rechtsprechung hierzu gibt es bislang nicht. Von den Instanzgerichten und der Literatur werden unterschiedliche Auffassungen vertreten. Dieser Beitrag gibt einen Überblick über den Stand der Diskussion und erläutert, welche Regelungen für die Bestimmung der Kaufmannseigenschaft vor deutschen Zivilgerichten herangezogen werden sollten.

P.-A. Brand
Grenzüberschreitender Verbraucherschutz in der EU – Ungereimtheiten und Wertungswidersprüche im System des europäischen Kollisions- und Verfahrensrechts 126

Die Anstrengungen innerhalb der Europäischen Union zur Schaffung eines Europäischen Zivilverfahrensrechts, sowohl im Rahmen der Zuständigkeit, der Anerkennung und der Vollstreckung, aber auch die Vergemeinschaftung des Internationalen Privatrechts auf EU-Ebene haben sich des Themas des grenzüberschreitenden Verbraucherschutzes angenommen. Sowohl die Rom I-Verordnung als auch die EuGVVO sehen deshalb besondere Schutzvorschriften für Verbraucher vor. Anliegen dieses Beitrages ist es, die wichtigsten kollisionsrechtlichen und verfahrensrechtlichen Vorschriften im Bereich des anwendbaren Rechts, der gerichtlichen Zuständigkeit und im Anerkennung- und Vollstreckungsverfahren auf ihre Praxistauglichkeit zu überprüfen. Auch sollen bestehende Ungereimtheiten und teilweise sogar gegenläufige Intentionen des europäischen Gesetzgebers aufgezeigt werden.

Entscheidungsrezensionen

C. Heinze
Keine Zustellung durch Aufgabe zur Post im Anwendungsbereich der Europäischen Zustellungsverordnung (EuGH, S. 157 und BGH, S. 160) 132
C. Thole
Verbrauchergerichtsstand aufgrund schlüssiger Behauptung für eine Kapitalanlegerklage gegen die Hausbank des Anlagefonds? (BGH, S. 164) 136

In seinem Urteil bejaht der BGH den Verbrauchergerichtsstand für eine auf die Verletzung von Hinweispflichten gestützte Klage eines deutschen Kapitalanlegers gegen die österreichische Hausbank eines Schneeballsystems, über deren in Deutschland bei einem anderen Kreditinstitut geführtes Konto die Einlagezahlung an den Betreiber des Schneeballsystems transferiert worden war. Zugleich setzt sich der Senat mit den prozessualen Anforderungen an die Darlegung des Vertragsschlusses auseinander. Christoph Thole hält die Entscheidung für vertretbar, warnt aber vor einer vorschnellen Verallgemeinerung der Aussagen des Urteils. Zugleich betont er die unionsrechtliche Dimension der Darlegungslast in Bezug auf die zuständigkeitsbegründenden Tatsachen.

S. Arnold
Zur Reichweite des verfahrensrechtlichen Verbraucherschutzes und zur Qualifikation der Ansprüche aus culpa in contrahendo und § 823 Abs. 2 BGB i.V.m. § 32 KWG (BGH, S. 168) 141

Deutsche Gerichte sind dem BGH zufolge für die Klagen deutscher Verbraucher wegen Anla-gegeschäften in der Schweiz international gem. Art. 13 Abs. 1 Nr. 3, 14 Abs. 1 Alt. 2 LugÜ I zuständig. Ansprüche aus § 823 Abs. 2 BGB i.V.m. § 32 KWG und aus culpa in contrahendo (wegen Aufklärungspflichtverletzung) begründeten hier „Klagen aus einem Vertrag“ i.S.d. Art. 13 Abs. 1 LugÜ I. Für die internationale Zuständigkeit deutscher Gericht ist nach Auffassung des BGH unerheblich, ob der Verbraucher faktisch schutzwürdig ist, ob er selbst die Initiative zum Vertragsschluss ergriffen hat und ob das „ausdrückliche Angebot“ des Unternehmers lediglich in einer invitatio ad offerendum besteht. Der BGH spricht sich damit implizit für eine formale Analyse des verfahrensrechtlichen Verbraucherschutzes aus. Damit berücksichtigt er, dass Rechtssicherheit gerade im internationalen Verfahrensrecht ein hohes Gut ist. Das Urteil entfaltet auch für Art. 15 Abs. 1 EuGVVO/LugÜ II Relevanz.

F. Eichel
Gerichtsgewalt und internationale Zuständigkeit für die Vollstreckung nach §§ 887 ff. ZPO bei ausländischem Leistungsort (BGH, S. 173) 146

Zur Handlungsvollstreckung mit ausländischem Leistungsort in einem EU-Mitgliedstaat entschied der BGH, dass die internationale Zuständigkeit für Vollstreckungsmaßnahmen §§ 887 ff. ZPO zu entnehmen ist. Der Aufsatz würdigt zunächst die Argumentation des BGH vor dem Hintergrund der völkerrechtlichen Gerichtsgewalt und belegt anschließend, dass die internationale Zuständigkeit als Annexkompetenz aus der EuGVVO abzuleiten ist.

B. Laukemann
Die Absonderungsklage im Europäischen Zuständigkeitsrecht (EuGH, S. 175) 150

Ende 2012 entschied der EuGH in der Rechtssache ERSTE Bank Hungary über die zeitliche Anwendbarkeit von Art. 5 EuInsVO, wenn ein Land (Republik Ungarn), in dem sich ein Sicherungsgegenstand befindet, zwar im Zeitpunkt einer Klageerhebung, nicht jedoch bereits bei Eröffnung des zugrunde liegenden Insolvenzverfahrens (in Österreich) der Europäischen Union beigetreten war. Dabei überging der Gerichtshof die von Generalanwalt J. Mazák aufgeworfene Streitfrage, ob die internationale Zuständigkeit für Feststellungsklagen über das Bestehen dinglicher Sicherungsrechte an Gegenständen der Insolvenzmasse von der EuGVVO oder vielmehr von der EuInsVO bestimmt wird. Am Beispiel der Absonderungsklage geht der vorliegende Beitrag dieser Zuständigkeitsabgrenzung nach, die nunmehr in Art. 3a des Kommissionsentwurfs zur Reform der Verordnung 1346/2000 für Annexklagen eine allgemeine Regelung gefunden hat. Der Artikel will zeigen, dass der Absonderungsprozess die zentralen Kriterien zur Fundierung einer vis attractiva concursus nicht erfüllt, und beschreibt die Konsequenzen für den zugrunde liegenden Rechtsstreit.

K. Bartels
(Übergangs-)Regeln der Sitzverlegung in Europa (OLG Nürnberg, S. 179) 153

Die Entscheidung des OLG Nürnberg behandelt – weitgehend obiter – Fragen der grenzüberschreitenden Umwandlung. Im zu entscheidenden Fall ging es um den Zuzug einer Société responsabilité limitée luxemburgischen Rechts (M. S.á r. l.) nach Deutschland. Die Immigration sollte begleitet sein von einem identitätswahrenden Formwechsel „in“ eine deutsche GmbH mit rechtsformangepasster Firma sowie Zweck- und (übriger satzungssitzverlegender) Statutenänderung. Eine neue Gesellschaft (wie in Vale Építési) sollte gerade nicht gegründet werden. Während das Heimatrecht der Société eine solche Operation zulässt, dem formwechselnden Fortbestand des Verbandes also nicht entgegensteht, gilt dies für das deutsche (Zuzugs-)Recht nicht (§§ 1 Abs. 1 Nr. 4, 190 ff., 226 ff. UmwG). Das OLG hält eine Vorlage nach Art. 267 Abs. 2 AEUV nicht für erforderlich. Denn selbst bei unionsrechtlicher Verpflichtung der Bundesrepublik zu zuzugsfreundlicher Gesetzgebung seien beim sitzändernden Unternehmensträger bereits die Voraussetzungen des deutschen UmwG sowie der Verordnungen betreffend EWIV, SE oder SCE nicht erfüllt. Entscheidung und Prozessgeschichte werfen dennoch weitreichende Fragen zum europäischen Recht der Sitzverlegung auf, wie es sich gegenwärtig – nach wie vor ohne ordnende Rechtsakte der Union 3 – darstellt.

Rezensierte Entscheidungen

4
5
EuGH
BGH
19.12.2012
02.02.2011
Rs. C-325/11
VIII ZR 190/10
Keine Zustellung durch Aufgabe zur Post im Anwendungsbereich der Europäischen Zustellungsverordnung [C. Heinze, S. 132] 157
6 BGH 29.11.2011 XI ZR 172/11 Verbrauchergerichtsstand aufgrund schlüssiger Behauptung für eine Kapitalanlegerklage gegen die Hausbank des Anlagefonds? [C. Thole, S. 136] 164
7 BGH 31.05.2011 VI ZR 154/10 Zur Reichweite des verfahrensrechtlichen Verbraucherschutzes und zur Qualifikation der Ansprüche aus culpa in contrahendo und § 823 Abs. 2 BGB i.V.m. § 32 KWG [S. Arnold, S. 141] 168
8 BGH 13.08.2009 I ZB 43/08 Gerichtsgewalt und internationale Zuständigkeit für die Vollstreckung nach §§ 887 ff. ZPO bei ausländischem Leistungsort [F. Eichel, S. 146] 173
9 EuGH 05.07.2012 Rs. C-527/10 Die Absonderungsklage im Europäischen Zuständigkeitsrecht [B. Laukemann, S. 150] 175
10 OLG Nürnberg 13.02.2012 12 W 2361/11 (Übergangs-)Regeln der Sitzverlegung in Europa [K. Bartels, S. 153] 179
11 OGH 28.4.2011 1 Ob 44/11v Zur verbleibenden Bedeutung des deutsch-österreichischen Anerkennungs- und Vollstreckungsvertrags 1959 [H. Roth, S. 188] 182

Blick in das Ausland

B. Reinmüller/A. Bücken
Provokation eines inländischen Deliktsgerichtsstandes im Urheberrecht (Cour de cassation, 25.3.2009 – 08-14.119) 185

Der Beitrag befasst sich mit einer Entscheidung der Cour de cassation (1ère civ. v. 25.3.2009 – Az. 08.14.119) zur Zulässigkeit der Provokation eines inländischen Deliktsgerichtsstandes im Urheberrecht bei Anwendung des Art. 5 Nr. 3 EuGVÜ. In Übereinstimmung mit der deutschen Rspr. differenziert die Cour de cassation dabei zwischen einer zulässigen Testbestellung, durch die ein inländischer Gerichtsstand begründet werden kann, und einer manipulativen Zuständigkeitserschleichung, der nach den Grundsätzen von Treu und Glauben keine zuständigkeitsbegründende Wirkung zukommt. Zudem wird die vom EuGH für Pressedelikte entwickelte „Mosaiktheorie“ auf das Urheberrecht übertragen. Somit ist auch die durch eine zulässige Gerichtsstandsprovokation begründete deliktische Zuständigkeit stets auf die im Forumstaat eingetretenen Schäden beschränkt.

H. Roth
Zur verbleibenden Bedeutung des deutsch-österreichischen Anerkennungs- und Vollstreckungsvertrags 1959 (OGH, S. 182) 188

In der hier besprochenen Entscheidung befasst sich der OGH mit der Frage der Beachtung ausländischer (deutscher) Rechtshängigkeit. Es geht um ein vor den österreichischen Gerichten mit zeitlichem Vorrang geführtes Aufteilungsverfahren nach den §§ 81 ff. des österreichischen Ehegesetzes. Der OGH qualifiziert das Verfahren als güterrechtlich und wendet darauf mit Recht den deutsch-österreichischen Vertrag vom 6.6.1959 an. Dessen Art. 17 stellt nicht auf die frühere Anhängigkeit, sondern auf die früher eingetretene Rechtshängigkeit ab. Daher kam dem deutschen Verfahren der Vorrang zu. Anders entscheiden die Normen der hier nicht anwendbaren EuGVVO und der EuEheVO.

P. Levante
Der materielle ordre public bei der Anerkennung von ausländischen Scheidungsurteilen in der Schweiz – Blick auf die Rechtsprechung 191

In der Schweiz stellen sich Fragen der Anerkennung von ausländischen Ehescheidungsurteilen immer häufiger. In zahlreichen Ehen mit internationalem Bezug wird die Scheidung im Ausland beantragt und ausgesprochen. Das hat zur Folge, dass den schweizerischen Gerichten oft die Aufgabe verbleibt, ausländische Scheidungsurteile auf ihre Anerkennung hin zu überprüfen. Der vorliegende Beitrag befasst sich mit dem materiellen ordre public bei der Anerkennung von ausländischen Scheidungsurteilen in der Schweiz. Zunächst werden die in der Schweiz maßgeblichen Rechtsgrundlagen dargestellt. Sodann wird ein Überblick über die neuere Rechtsprechung von schweizerischen Gerichten gegeben. Hinsichtlich der Eheauflösung wird insbesondere aufgezeigt, unter welchen Voraussetzungen ausländische Privatscheidungen und Verstoßungen in der Schweiz anerkannt werden können. In Bezug auf die vermögensrechtlichen Scheidungsnebenfolgen (Ehegattenunterhalt, Güterrecht, berufliche Vorsorge) ist im Rahmen der Anerkennung zu prüfen, ob insgesamt ein ausreichender finanzieller Ausgleich geschaffen wird. Die Kinderbelange (elterliche Sorge, Besuchsrecht, Kinderunterhalt) sind bei gegebener Zuständigkeit der Behörden von Amts wegen und als Einheit zu regeln. Bei der Prüfung des ordre public ist das Kindeswohl zu berücksichtigen.

Mitteilungen

G. Hohloch:
Hans Stoll † (4.8.1926 – 8.11.2012) 195
K. Duden
„Leihmutterschaften“ – Abschlussveranstaltung der Jahresfachtagung des Bundesverbandes der Deutschen Standesbeamtinnen und Standesbeamten 196
C. Camara
Cross-border successions within the EU – Report on a conference by the ERA 198
C. Mindach
Moldau: Staatlicher Schadensersatz bei Verschleppung von Gerichtsverfahren und der Vollstreckung von Gerichtsentscheidungen 199

Materialien

H.-P. Mansel
Beschlüsse der Sitzung der Ersten Kommission des Deutschen Rates für Internationales Privatrecht zur Reform des Ehe- und Lebenspartnerschaftsrechts am 9./10.11.2012 in Würzburg 200

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